1. Tag

 

von Thomas Schaufelberger

Gespräch mit dem Theologen Lorenzo Labrija

Am Tag 1 der Studienreise nach Schottland erzählt der amerikanische Theologe (Episcopal Church) Lorenzo Labrija, TryTank, weshalb und wie er kirchliche Innovation sieht, welche Pfarr- und Kirchenbilder die Zukunft prägen werden und wie die heutigen Vikar:innen später als Pfarrer:innen innovativ handeln können.

Er empfiehlt drei Schritte (abgeleitet vom Design Thinking Prozess):

  1. Entdecken (Kontext wahrnehmen, Sozialraumanalyse): Informationen sammeln für einen Entscheid. Dies geschieht mit der Grundhaltung der Neugier.
  2. Ideen generieren nach der Formel T+5 (fünf Ideen mehr wie die mit der Ideensammlung zugebrachte Zeit, in zwanzig Minuten 25 Ideen, usw.). Dies geschieht mit einer spielerischen Grundhaltung.
  3. "Minimal Viable" Prototypen erstellen, schnell Dinge ausprobieren ohne lange Konzepte zu schreiben. Dies geschieht mit der Grundhaltung des Mutes.

Ein packender Start, der per Zufall gelungen ist. Denn Lorenzo ist nur für ein paar Tage in Schottland und hat mir der Church of Scotland eine Reihe von Workshops zum Thema "Innovation" organisiert. Vor seinem Flug zurück, nimmt er sich Zeit für ein Gespräch mit den Vikar:innen in Edinburgh.

 

Sozialfirma der Greyfriar Kirk

Eine Kirchgemeinde in Edinburgh (Greyfriar Kirk) hat eine blühende, profitable Sozialfirma (Social Enterprise) aufgebaut. Sie ist in der Lage, randständigen Menschen Ausbildungsplätze, Jobs und Gemeinschaft zu geben. Profite werden bewusst erzielt, um noch mehr möglich zu machen. So ist - ausgehend von einer Holzwerkstatt, die alte Kirchenbänke mit wertvollem Tropenholz zu gesuchten Möbeln verarbeitet - eine Reihe von Enterprises entstanden, Cafés, Tartan-Produktion, Verkauf der Produkte.

Jonny Kinross, Leiter von Grassmarket Community Project, Edinburgh, erläuterte den Lernvikar:innen die Wertebasis dieser Unternehmung, die Geschichte und die Kooperation mit der Kirchgemeinde. Jon Slight zeigte die Holzwerkstatt. Über Mittag gab es Lunch im Coffee Saints, einem dieser Projekte, das ökumenisch mit der katholischen Kirche entwickelt wurde und hoch profitable ist - gleichzeitig elf Arbeitsplätze bietet.

Diese Art von Social Entreprise ist etwas anderes als die "Fördervereine", die in der Schweiz diskutiert werden. Sie werden kaum die Finanzierung der kirchlichen Arbeit sicher stellen können, wenn die Zeit der Kirchensteuern vorbei sein wird. Social Entreprises könnten eine interessante Alternative werden.

Bei der Greyfriar Kirche liegt der Friedhof, auf dem JK Rowling für einige Figuren ihrer Harry Potter Bücher Namens-Inspirationen bekommen hat.

 

Tag 2 (erster Teil)

 

John Chalmers - Radical Action Plans der schottischen Kirche

John Chalmers kennt die schottische Kirche wie kaum ein anderer. Als Pfarrer hat er jahrelang in dieser Kirche gearbeitet. Dann war er für ein Jahr der «Moderator» der Church of Scotland (eine nationale Leitungsrolle). Er war involviert in den «Radical Action Plan», den die General Assembly der schottischen Kirche vor 3 Jahren gefasst hat und ist seither als «Convener of the Trustees» leitend für den Veränderungsprozess, insbesondere für einen 25 Millionen-Kredit, der für Pionier-Arbeit und für die Gründung von neuen kirchlichen Orten und Formen zur Verfügung gestellt werden sollte.

"Wir wissen was wir wollen"

Die Pandemie hat in den letzten zwei Jahren diese Pläne gestoppt. Die finanziellen Einbussen sind dramatisch. Der Lockdown dauerte für Kirchen und Gottesdienste viel länger als bei uns. Und es zeigt sich, dass das gewohnte Teilnahme-Verhalten dauerhaft verändert worden ist. Dennoch sagt John Chalmers: «Dass wir erst jetzt wieder versuchen, die 25 Millionen Wachstums-Kredit zusammen zu stellen, ist gut. Denn vor der Pandemie wäre es zu einem grossen Teil in den Versuch geflossen, die bisherigen Strukturen aufrecht zu erhalten. Nun wissen wir genauer, was wir wollen und was nicht mehr funktioniert.»
Anhand seiner eigenen Biographie und seinem eigenen Ringen mit Theologie und Kirche, schildert er den Vikar:innen eindrücklich, welche Veränderungen er in der Church of Scotland als notwendig erachtet.

100 neue Communities

Er sieht das Herz und die Seele des «Radical Action Plans» als eine Wieder-Entdeckung einer inklusiven Theologie eines liebenden Gottes ohne Grenzen. Das ist ein weiter Weg, denn die schottische Reformation wurzelt in einem strengen und unverrückbaren Gottesbild, der schon ausgewählt hat, wer gerecht ist und wer nicht. Deshalb gehe es in allen Bemühungen mit Menschen das Evangelium zu teilen immer um «People before Dogma». So sollen in den nächsten Jahren 100 neue Communities entstehen – eine Investition in neue Wege und neue Formen. Die Kirche müsse sich in die schwierigen Themen der heutigen Generationen hineinbegeben und dort – mit den Menschen – um Antworten ringen oder die Antwortlosigkeit aushalten: Krieg in Europa, Klimakrise, Fragen nach Sicherheit und Gerechtigkeit usw. «Wenn wir als Kirche dort nicht engagiert sind, dann gibt es für jüngere Menschen keinen Grund, sich mit uns zu verbinden.» John Chalmers weiss, dass dies auch bedeutet, die eigenen Bekenntnisse und die eigene Theologie zu re-framen, re-formieren. «Wir müssen dazu bereit sein!» Am besten gehe das, wenn wir uns an die Grenzen, an die Ränder begeben und dort mit Menschen die Frage nach Gott stellen. Dort, wo die Verletzungen, das Alleinsein, die Verzweiflung und Not gross sind.

Tag 2 (zweiter Teil)

 

Strukturen verändern um Innovation zu ermöglichen

Liz Crumlish und Lesley Hamilton-Messer gehören zu einer Gruppe von Engagierten, die in der Church of Scotland schon seit Jahren am Thema Innovation und Pioneering arbeiten. Liz Crumlish leitete bis vor anderthalb Jahren das Programm «Path of Renwal», das fünf Pionier-Pfarrstellen begleitete und ein Ausbildungscurriculum für innovativ Kirchgemeinden anbot. Ausserdem bildeten diese geschulten Kirchgemeinden und ihre Akteure ein Netzwerk. Lesley Hamilton ist Leiterin des Programms «Church without walls», das beauftragt ist, neue kirchliche Orte und Formen in der Church of Scotland zu fördern.

Nicht nur – aber auch – die Pandemie hat gezeigt, dass es grosse, disruptive Veränderungen braucht. Das Church without walls-Programm macht dies mit vier Prinzipien: Inhalt (Evangelium), Kontext (Sozialraum), die Gaben und das Potential der Menschen einbeziehen, sich der Gnade Gottes öffnen. In den letzten Jahren wurde immer wieder deutlich, dass es für wirkliche Innovation auch veränderte Strukturen und Finanzflüsse braucht. Die Church of Scotland hat nun auch diese Ebene in Angriff genommen. Daneben wird aber auch an einem Re-Framing der Theologie und der theologischen Ausbildung gearbeitet.

Kulturwandel hin zu «Pflicht für Neues»

Lesley Hamilton-Messer zeigt, wie die schottische Kirche in der Krise und mit den finanziellen Problemen jetzt ihren Hauptfokus verändert: Sie will sich konsequent an Menschen ausserhalb der Kirche wenden. Dazu braucht es eine entsprechende Kultur, die vor allem in «deep listening» besteht. Ausserdem muss die Kirchenkultur von einer Kultur der «Erlaubnis für Neues» zu einer Kultur der «Pflicht für Neues» ändern.
Im Grunde genommen geht es um nichts anderes als darum, dass die Kirche und ihre Strukturen nicht im Weg sind, wenn Neues entstehen will – oder theologisch gesagt. So soll eine intergenerationelle Kirche entstehen mit einem starken Gewicht auf Beziehungen, Teilhabe, Gemeinschaft: Es geht nicht darum, neue Angebote zu entwickeln, sondern mit Menschen zusammen die Kirche und die Gottesdienste zu gestalten.
Liz Crumlish erläuterte, dass dazu die wichtigste Methode die Reflexion ist. Kirchgemeinden sollen reflektieren, was sie sind und was Gott mit ihnen vorhat. Sie sollen immer wieder innehalten und solche Reflexionszeiten einbauen. Und dies gilt auch für die Pfarrpersonen. Liz Crumlish ist inzwischen als Supervisorin für Pfarrpersonen tätig und berichtet, wie wichtig es ist, regelmässig über das eigene Tun zu reflektieren – gerade wenn Neues entstehen soll.

3. Tag

 

Eine Kirche die kämpft

Wir treffen auf dieser Studienreise eine Kirche an, die kämpft. Sie kämpft mit den Folgen der Pandemie – finanziell und personell. Sie kämpft mit einem neuen Verständnis von Kirche und Mission. Es ist faszinierend, in dieser Phase des «betwixt-and-between», wo noch viele Fragen und keine glasklaren Antworten vorliegen, zu beobachten und mit den Akteuren hier zu reflektieren.

Theologische Fakultät der Universität Edinburgh

An Vormittag werden die Lernvikar:innen von Professorin Susan Hardman Moore und von Sandy Forsyth durch das New College geführt, die Theologische Fakultät an der Universität Edinburgh. Susan ist principal der Fakultät und gibt Einblick in die Geschichte und in die aktuelle Diskussion mit der Church of Scotland, die akademische Ausbildung der Pfarrer:innen umzugestalten. «Wir sind Dienstleister für die Kirche und warten, bis sie meldet, was sie braucht», sagt Hardman. Sie zeigt dann auch die angegliederte General Assembly Hall, eine historische Stätte. Hier fand 1910 die erste Weltmissions-Konferenz statt, die dann in der Folge zur Gründung des ökumenischen Rates der Kirchen führte und zu einem neuen Verständnis von Mission. Und hier findet jährlich die General Assembly der schottischen Kirche statt mit 800 Synodalen, die jeweils eine Woche lang über wichtige Fragen diskutiert.

Sandy Forsyth ist Lecturer am New College und Pfarrer in einer Kirchgemeinde im Süden von Edinburgh. Er leitet einen Lehrgang für «Pioneering» und zeigt im Schnelldurchlauf, welche Grundüberlegungen bei diesem Programm eine Rolle spielen. Er zeigt, wie es beim Thema Innovation nicht darum gehen kann, bisheriges besser zu machen (das ist sowieso der Auftrag aller), sondern wie es darum geht, auch Neues zu wagen. Konkret sind 100 «new worshipping communties» bis 2030 geplant, welche die Logik der Parochien überschreiten. Dafür notwendig ist eine Veränderung der Grundhaltung. Es geht um Empowerment von Menschen, um eine Kultur der Ermöglichung und um die Ressourcen, die für Neues zur Verfügung stehen sollen. Immerhin sei jetzt ein Pioneer Mission Fund aufgesetzt, der jährlich 100'000 Pfund ausschütte.

Während der Pause in der eindrucksvollen Rainy Hall begegneten die Vikar:innen einer Kollegin aus Schottland. Ausserdem war zufällig der aktuelle «Moderator» der Church of Scotland im Haus, Jim Wallace Er begrüsste die Gruppe mit einem kurzen Grusswort.

Der Wert des Zuhörens

Doug Gay ist Lecturer für Praktische Theologie an der Universität von Glasgow. Ihn treffen die Lernvikare am Nachmittag in Glasgow. Seine Thesen sind provokativ – absichtlich etwas zugespitzt, damit eine Diskussion entsteht. Er findet, die Emotion und die Erfahrung gehört untrennbar zu Religion und Glaube. Die «hot religion» kann das besser als die «cold religion». Die Frage ist nun: wie kann die Church of Scotland etwas von dieser «hot religion», in der auch Emotionen eine Rolle spielen aufnehmen? Bei ihm spürbar wird ein eindrückliches Ringen um die Rolle des Glaubens in einer schwierigen Welt. «In dieser Zeit ist es nicht sehr angenehm, Atheist oder Humanist zu sein; aber es ist genauso unangenehm Christ zu sein». Deshalb gibt es das Christsein nur noch, wenn es sich ins Unangenehme hineinwagt und bei den Fragen rund ums Klima, rund um den Krieg in der Ukraine, rund um Covid darum ringt, ehrlich und ungeschminkt, etwas beizutragen. Plattitüden reichen dafür nicht: Sinn und Tiefe sind gefragt, um Menschen, die weitgehend indifferent gegenüber der Kirche und dem Glauben sind, aufzuzeigen, welche Option das Christentum hat. Doug Gay denkt auch darüber nach, in wie fern Inklusion zusammengeht mit der Taufe. Denn: «die Taufe zieht eine Linie. Es gibt solche, die getauft sind und solche die nicht getauft sind. Und das macht einen Unterschied». In dieser Suchbewegung für neue Relevanz sieht auch er eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit als wichtig ist, eine Ermöglichungskultur und genügend Ressourcen. Schliesslich ist er eine weitere Person, die vom Wert des Zuhörens (listening) spricht. Wir müssten sorgfältig der Community zuhören, in der wir sind und können dadurch Räume aufspannen für Glaube und Kirche.

Einblick in ein Innovationsprojekt

Zum Schluss gibt Mirjam Murphy im Café der Tron’s Church im Zentrum von Glasgow Einblicke in praktische Innovationsprojekte. Albert Bogle, der Gründer und Leiter der ersten online-Kirche Schottlands, erzählt via Zoom seine Geschichte von Sanctuary First. Alister Duncan zeigt, wie er vor 9 Jahren ein leeres Kirchgebäude neben dem Hauptbahnhof von Glasgow füllen musste. Er machte das auf zwei Arten: auf der einen Seite etablierte er ein Café, das als Social Entreprise sehr gut funktioniert. Auf der anderen Seite feierte er Gottesdienste, bis eine Gruppe von 12 Personen bereit war, mit ihm etwas aufzubauen. Nun trifft sich regelmässig eine Community in diesem Raum. Mirjam Murphy gab Einblick ihre Projekte wie eine Minecraft-Anwendung für den Unterricht.

4. Tag

 

Reformation Tours - Stadtführung

Am letzten Tag der Studienreise der Lernvikar:innen nach Schottland stand eine Stadtführung der Reformation Tours auf dem Programm. Jimmy Fisher versteht seine Organisation als Social Entreprise der Presbyterian Church of Scotland. Alles erwirtschaftete Geld geht in Bildungsarbeit an Schulen und in den Kirchgemeinden. Jimmy Fisher selber ist tief verwurzelt in der Geschichte der schottischen Reformation. Start des Rundgangs ist das John Knox-Haus. Es geht weiter zum Grab von John Knox auf einem Parkplatz, zur St. Gilles Kathedral, ins National Museum, zur Greyfriars Kirk, zum Friedhof und zum Grassmarket.

Die wechselvolle Geschichte der schottischen Reformation ist voll von Bürgerkrieg, von Konflikten mit England und den Katholiken. Die Konfession der regierenden Könige oder Königinnen wechselte im 16. und 17. Jahrhundert so schnell und viel, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Am wenigsten bekannt ist wohl, dass es während der Gegenreformation und einer zweiten Reformation (die Reformierten schrieben einen «Convenant», den Tausende unterschrieben. Deshalb werden die Reformierten in der schottischen Geschichte auch als «Convenanters» bezeichnet) schlimme Jahre gab – sogenannte «Killing Times». In dieser Zeit predigten die Reformierten auf den Feldern. Es war nicht erlaubt, eine Bibel zu besitzen und nur schon der Verdacht, ein Reformierter zu sein, bedeutete ein Todesurteil. So wurden in wenigen Jahren einer Population von 1 Million Menschen 18'000 Protestanten hingerichtet und in Massengräbern verscharrt. Jimmy Fisher hält diese Erinnerung aufrecht. Seine Stories sind erschütternd und detailreich. Aber auch Jimmy Fisher kann sich nicht recht erklären, weshalb die starke Identität der Reformierten, die sich in diesen Jahren zeigte, heute fast verschwunden ist. Mit noch 300'000 Mitgliedern muss sich die schottische Kirche auf andere Fundamente stellen, als auf eine Geschichte aus dem Mittelalter. Und dieser Prozess dauert wohl noch eine Weile…

Mit Fragen heimreisen

Am Nachmittag fasst die Lernvikar:innen ihre Aha-Erlebnisse und Transfer-Überlegungen dieser Reise zusammen. Dabei wurde deutlich, mit noch mehr Fragen zurück zu reisen ist eine gute Sache. Denn oft ist es für das Lernen wichtiger, die richtigen Fragen zu stellen, als schon Antworten zu haben.