Von Marin Hirzel
In der innerprotestantischen Ökumene in Europa werden heisse Eisen nicht gerne angefasst. Schwierige oder gar kirchentrennende Themen stehen zumeist nicht zuoberst auf der gemeinsamen Traktandenliste. Lange standen die evangelischen Kirchen ohnehin im Ruf, untereinander immer zu streiten. Und mit rund vierzig Millionen Mitgliedern bei einer Einwohnerzahl von fünfhundert Millionen ist der Protestantismus in Europa ein Minderheitenphänomen. Da gilt es zusammenzuhalten. Da zelebriert man lieber die Einheit, die durch die Leuenberger Konkordie 1973 ermöglicht wurde. Nach jahrhundertelanger Spaltung wurde es möglich, auf der Basis des gemeinsamen Evangeliumsverständnisses einander als Kirchen anzuerkennen und Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft zu erklä-ren. Ob in einer Kirche in Hammerfest oder in Palermo, in Budapest oder in Belfast: überall können sich Reformierte, Lutheraner, Unierte und Methodisten heute in ihrer Kirche zu Hause fühlen. Darum geht es bei Treffen von evangelischen Kirchen in Europa heute oft wie bei Familientreffen zu, wo man sich die Geschichten von früher erzählt und tunlichst alles meidet, was die festliche Stimmung verderben könnte. Man spricht lieber über das Gemeinsame: die bedeutenden und spürbaren Wirkungen der Reformation bis heute oder die nach wie vor vorhandene Anerkennung durch Staat und Gesellschaft.
Im Herbst 2018 trafen sich in Basel Delegierte aller evangelischen Kirchen Europas zur 8. Vollversammlung (VV) der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa GEKE. Würdevoll getagt und Gottesdienst gefeiert wurde im Münster. Das Bewusstsein, über Grenzen hinweg gemeinsam Kirche zu sein, wurde gestärkt. Im Unterschied zu früher wurden jedoch schwierige Themen zumindest indirekt in den Beschlüssen angesprochen. Die evangelische Wochenzeitschrift «Zeitzeichen» übertitelte ihren Bericht über die VV gleichwohl mit «Elefant im Münster». Es gab sie also, die allen bekannten Themen, die im Raum standen; die Probleme, über deren Verursacher man nicht sprechen wollte.
Zu den heissen Eisen gehört, im Unterschied zur weltweiten Ökumene, das Thema Frauenordination definitiv nicht (mehr). In allen grossen Kirchen ist sie längstens eingeführt. Einzig die kleine lutherische Kirche Polens kennt sie noch nicht. Und als man unlängst in Litauen daran ging, sie wieder abzuschaffen, waren die Reaktionen aus der GEKE heftig. Dieses Beispiel zeigt, dass einmal Erreichtes auch wieder verloren gehen kann. Das gemeinsam gewonnene Verständnis in Theologie, Ethik und Kirchenordnung muss stets wieder bekräftigt werden.
Punkto der Fragen rund um die Bewertung der Vielfalt menschlicher Sexualität konnte man lange Zeit erleichtert feststellen: «Anders als die christlichen Weltgemeinschaften drohen wir nicht daran zu zerbrechen.» Das lag aber vor allem auch daran, dass die Kirchen Westeuropas hier eine Meinungsführerschaft beanspruchen und etwa zu Homosexualität eine offene Haltung haben. Nicht zuletzt im Zuge der kirchlichen Debatten um die «Ehe für alle» in ganz Europa trauen sich aber vor allem auch vermehrt die Kirchen in Mittel- und Osteuropa ihre abweichenden Meinungen zu äussern. Um Zerreissproben innerhalb der GEKE zu vermeiden, wird deshalb gegenwärtig eine Orientierungshilfe zum Thema «Sexualität und Gender» erarbeitet.
Gerade im Gespräch zwischen den Kirchen in West- und Osteuropa gibt es weitere heisse Eisen, über die man seit der letzten VV der GEKE vermehrt sprechen will. Der Beschluss, über «Demokratie als Herausforderung von Kirchen und Gesellschaft» zu arbeiten, kann als freundliche Einladung insbesondere an die reformierte Kirche Ungarns verstanden werden. Angesichts ihrer offiziellen Nähe zu Viktor Orbans Fidesz-Partei mit ihrer populistisch-nationalistischen Politik und ihrem Modell eines «illiberalen demokratischen Staates» muss sie sich viele Fragen westlicher Kirchenvertreter gefallen lassen. Bevor diese aber vorschnell Urteile fällen, sollten sie die enge Verbindung von Kirche-Volk-Nation im Zusammenhang der Rolle dieser Kirchen während des Kommunismus und der vorangegangenen Kriege betrachten, wo Sprach- und Volksgruppen willkürlich auseinandergerissen wurden.
Politische Themen wie auch die Migrations- und Flüchtlingsthematik sind aber nicht nur zwischen den Kirchen in West und Ost heisse Eisen. In Grossbritannien beispielsweise war die Haltung zum Brexit und damit zur EU im Jahr 2016 durchaus unterschiedlich. So war die protestantische Kirche Schottlands mehrheitlich dagegen, in Wales hingegen dafür. Es sind aber nicht nur ethisch-politische Themen, die in der innerevangelischen Ökumene nach wie vor für Debatten sorgen können. Als an der VV der GEKE in Basel ein Studiendokument zum Thema «Pluralität der Religionen» präsentiert wurde, gab es durchaus auch westeuropäische Stimmen, beispielsweise aus Norwegen, denen die theologische Begründung der explizit wertschätzenden Haltung gegenüber der Wahrheit anderer Religionen zu weit ging.
Auch in der innerprotestantischen Ökumene in Europa gilt, dass man lieber Harmonie demonstriert als Einheit durch heftige Debatten und Streit aufs Spiel setzt. Klar ist: Das Anfassen heisser Eisen tut wohl weh. Aber der Wahrheit ist man dies schuldig. Nur so kann man redlich zusammen einen gemeinsamen Weg gehen oder – was Gott verhüten möge – je einen eigenen.
Pfarrer Dr. Martin Ernst Hirzel, geboren 1965, ist Beauftragter Personalentwicklung Pfarrschaft bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. Vorher war er Beauftragter für Ökumene und Religionsgemeinschaften beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) in Bern und Professor für Kirchengeschichte an der Waldenserfakultät in Rom.
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Die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die fast alle lutherischen, reformierten und methodistischen Kirchen Europas einschliesst. Die Mitgliedskirchen haben sich 1973 in Leuenberg bei Basel mit der Leuenberger Konkordie zu gegenseitiger Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft verpflichtet.
www.cpce-assembly.eu
Politische Theologie – Theologische Studienwoche in Leipzig (22.–26.6.2020)