Von Walter Dietrich
Manchmal hat man in der Bibel den Eindruck, die Menschen sähen sich einem «kalten» Gott gegenüber, den es nicht kümmert, wenn sie leiden. Der Prophet Habakuk beklagt sich: «Wie lange, Ewiger, habe ich um Hilfe gerufen – und du hörst nicht, schreie ich zu dir ‘Gewalttat!’ – und du hilfst nicht?» (Hab 1,2) Der König Saul ruft, kurz vor seinem tragischen Ende, verzweifelt: «Gott hat sich von mir abgewandt und antwortet mir nicht» (1Sam 28,15). Gott kann sogar – durch Prophetenmund – selbst zugeben, lange Zeit «geschwiegen» zu haben, doch nun wolle er sich wieder vernehmen lassen (Jes 42,14). Die Psalmen beklagen häufig, dass Gott untätig bleibt, wo er etwas tun müsste. Ein kollektives Klagegebet appelliert an ihn: «Schweige nicht und halte nicht still!» (Ps 83,2) Ein einzelner Beter fordert ihn auf: «Schweige nicht, Herr, bleibe nicht fern von mir! Wach auf, erwache für mein Recht» (Ps 35,22f; die Vorstellung vom «schlafenden» Gott begegnet noch in Ps 7,7; 44,24f; 59,5f; 80,3). Grell klingt der Ruf des gekreuzigten Jesus im Ohr: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» (Mk 15,34) In unseren Tagen erinnert das Gedenken an die Befreiung von Auschwitz vor 75 Jahren an das wohl unfassbarste Gottesschweigen der Menschheitsgeschichte.
Es gibt freilich auch das andere: dass es Menschen nur recht ist, wenn Gott sich nicht rührt, ganz gleich, was sie tun. Da können sie das Volk Gottes «zermalmen» und die Schutzbedürftigsten – Witwen, Waisen, Fremde – «töten», und dazu ganz kühl sagen: «Der Ewige sieht es nicht, der Gott Jakobs merkt es nicht» (Ps 90,7; ganz ähnlich Ps 10,11). Es könnten einem wieder die Schergen und Helfer in den Konzentrationslagern einfallen, denen bei ihrem mörderischen Geschäft der Gedanke an Gott vielleicht nicht einmal in den Sinn kam.
Somit scheint klar: Nur das nicht, bloss kein «kalter» Gott! Muss Gott nicht heissblütig sein, aufwallend gegen das Böse, dreinschlagend gegen das Unrecht? Nicht umsonst ist das Attribut des obersten Gottes von Hellas, Zeus, der Speer, und trägt der nordische Thor den Beinamen «Donnerer». Auch beim biblischen Gott ist oft die Rede von «Zorn», «Rache», von seinem «Eifern». Und es gibt drastische Geschichten dazu: Bald nach der Schöpfung, als in der Welt die Gewalt überhandnimmt, entschliesst sich Gott, alles Leben in einer Sintflut zu ersäufen (Gen 6). Dem Mose erscheint er, symbolisch genug, in einem brennenden Dornbusch, dessen Feuer nicht erlischt (Ex 3). Das versklavte Volk Israel haut er aus Ägypten heraus durch eine lange Folge von Plagen und Gewalttaten (Ex 7–14). Dem eben sesshaft gewordenen Israel kommt er wiederholt zu Hilfe: einmal, indem er Sonne und Mond «stillstehen lässt, bis das Volk Rache genommen hat an seinen Feinden» (Jos 10,13), einmal indem er «vom Himmel her die Sterne kämpfen lässt» (Ri 5,20). Dem König David verhilft er zum Sieg gegen die übergriffigen Philister, indem er sich höchstpersönlich in den Kampf einmischt (2Sam 5,17–25). Auf die Bitte des Propheten Elija hin lässt er Feuer vom Himmel fallen und beschämt damit die Verehrer Baals (dessen Propheten Elija dann reihenweise hinschlachtet: 1Kön 18). Gegen die mörderische, imperiale Grossmacht Assur und ihre Metropole Ninive bietet der Prophet Nahum alle nur denkbare göttliche und menschliche Gewalt auf (Nah 2–3).
Doch zu diesen heissblütigen, gewalttätigen Zügen im biblischen Gottesbild gibt es Gegenbilder: von einem stillen, sanften, barmherzigen Gott. So flüchtet sich der eben noch so erfolgreiche Elija kurz darauf zum Gottesberg Horeb – und erlebt dort, wie Gott nicht in Sturmwind, Erdbeben oder Feuer erscheint, sondern in der «Stimme eines verschwebenden Schweigens» (so Martin Bubers Übersetzung von 1Kön 19,12). Die von ihm herbeigeführte Sintflut hat Gott sofort «bereut» und versprochen, künftig die Erde nicht mehr zu vernichten (Gen 8; wenn also die Erde zugrunde geht, dann nicht seinet-, sondern der Menschen wegen!). Und die Prophetenschrift Jona lässt, im Widerspruch gegen Nahum, Ninive Busse tun und daraufhin von Gott verschont werden (Jona 3–4). Sogar das Krokodil bekommt in der Bibel sein Lebensrecht: Gott versichert Hiob, dass er für dieses wie für alle anderen Tiere ein Herz habe (Hiob 38–41). Und Jesus stellt kühl fest, dass «Gott seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute». Das mag für die, die sich «gut» fühlen und unter «Bösen» leiden, eine Anfechtung sein. Doch alle sollen wissen: Gott ist nicht unbeherrscht-heissblütig, sondern grosszügig-langmütig.
Freilich, ein Grüssaugust, den man ungestraft immer nur verlachen kann, ist Gott nicht! Seine beiden Seiten, die «heisse» und die «kühle», bringt die sogenannte «Gnadenformel» auf den Punkt, die in verschiedenen Ausformungen rund zwanzigmal in der Hebräischen Bibel begegnet und deren Grundfassung so lautet: «Der Ewige ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig und von grosser Gnade und Treue, der Gnade bewahrt Tausenden, der Schuld, Vergehen und Sünde vergibt – der aber nicht ungestraft lässt, sondern die Schuld der Vorfahren heimsucht an Söhnen und Enkeln, bis zur dritten und vierten Generation» (Ex 34,6f). Gegenüber menschlicher Unzulänglichkeit bewahrt Gott also grundsätzlich «kühlen Kopf», er kann aber durchaus auch «hitzig» werden. Der Mensch muss vor ihm keine Angst, sehr wohl aber Respekt haben!
Im Talmud gibt es einen wunderbaren Midrasch: Gott gleicht einem König, der ein hauchfeines Glas besitzt (gemeint ist: die Welt). Nun hat er zwei Getränke, ein sehr heisses und ein sehr kaltes (Zorn und Langmut). Ob er das eine oder das andere hineinschüttet: Das Glas wird zerspringen. Also mischt er heiss und kalt – und hofft, das Glas werde überstehen.
Prof. Dr. Walter Dietrich ist Emeritus am Institut für Altes Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, wo er bis 2009 einen Lehrstuhl für Altes Testament innehatte. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören die Themen: Samuelbücher, frühe Königszeit in Israel, Archäologie der Eisen I- und IIA-Zeit, Deuteronomiumsforschung, Bibel und Literatur/Kunst und Theologie und Ethik des Alten Testaments. [tocco-encoded-addr:MTE5LDk3LDEwOCwxMTYsMTAxLDExNCw0NiwxMDAsMTA1LDEwMSwxMTYsMTE0LDEwNSw5OSwxMDQsNjQsMTE2LDEwNCwxMDEsMTExLDEwOCw0NiwxMTcsMTEwLDEwNSw5OCwxMDEsNDYsOTksMTA0]