Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Den bloss lauwarmen Papierchristen droht die heisse Hölle. Woher kommt dieses Bild, das ich aus meiner Jugend kenne?
TS Thomas Schlag: Dieses Bild kenne ich, Gott sei Dank, aus meiner eigenen Kindheit nicht. Ich höre daraus natürlich das altbekannte Entscheidungschristentum heraus – relativ unbarmherzig, drängend und auch angstbesetzt, abgesehen von den theologischen Problemen solcher Aussagen sowieso.
Wie oder durch wen ist dieses Bild kultiviert und verbreitet worden?
TS Es gibt in der alten pietistischen Tradition ja das eindrückliche Bild der zwei Wege von Charlotte Reihlen, sozusagen die evangelische Variante des Höllentors. Auf dem breiten Weg drohen Laster, Sünde, Tanz und Spiel, der enge Weg ist den wirklich Frommen vorbehalten, hier wird gebetet, sich züchtig benommen, spaziert, dem Weltsinn und der Eisenbahn abgeschworen. Das sind, wenn man es analytisch sehen will, ultimative Aufforderungen zur Bindung an das eine Wort Gottes, übrigens mit einer gehörigen Portion Modernitätsangst und Verweltlichungsfurcht. Aber mit diesem schroffen Gegensatz von «Tod und Verdammnis» auf der einen, «Leben und Seligkeit» auf der anderen Seite sollte man heute weder religiös bilden noch Kirchenentwicklung betreiben.
Du hast einmal in einem Artikel die Typologie von heissen, kalten und lauwarmen Kirchgemeinden entwickelt. Inwiefern unterscheiden sich die Typen von Kirchgemeinden voneinander?
TS Ja, tatsächlich erlebe ich – sei es bei eigenen Erfahrungen mit kirchgemeindlicher Praxis oder auch bei den Analysen durch unser Zentrum für Kirchenentwicklung – sehr unterschiedliche Temperaturen. Kalt ist es dort, wo man wirklich nur noch «daily routine» macht: wenn also von den Pfarrpersonen über die Verwaltung bis hin zum Gemeindeleben irgendwie alles mühsam erscheint, man könnte es fast parochiale Depression nennen. Vielleicht sollte man es so sagen: Natürlich kann nicht überall ein riesiges Feuer angezündet und dauerhaft Wärme für alle erzeugt werden. Und dass es manchmal nur noch lodert und glimmt, ist ja auch den äusseren Umständen, den sogenannten Megatrends geschuldet. Aber wenn dann im Einzelfall in einer Gemeinde kaum noch Glut vorhanden ist, macht mich das schon betroffen. Und ich verstehe es auch nicht so ganz: die finanziellen Gegebenheiten liefern immer noch erhebliche Mengen an Holz, und Anzünder sind auch vorhanden, und dass spirituelle und gemeinschaftliche Wärme und intellektuelle Reibungshitze gebraucht werden, ist ja nicht von der Hand zu weisen.
Was sind die wichtigsten Faktoren, die über eine Entwicklung in eine heisse oder kalte Richtung entscheiden?
TS Ich denke, dass vieles mit einer Haltungsfrage beginnt. Wenn sich die einstmals bewährten Angebote eben nicht mehr als attraktiv erweisen, dann heisst es, mutig umzusteuern. Man kann das – bei allen Grenzen des Vergleichs – bestens an Wirtschaftsunternehmen, etwa KMU’s, sehen: Ein guter Unternehmer, der für seine Produkte keinen Absatz mehr findet, der muss den Markt neu sondieren und sich überlegen, wie er sich gegebenenfalls ganz neu positioniert. Dazu sind drei Dinge vorausgesetzt: Erstens macht es keinen Sinn, den alten Zeiten hinterherzujammern, zweitens muss er vom eigenen Produkt total überzeugt sein, und drittens ist tatsächlich innovative Expertise gefragt. Wie gesagt, das sind zuallererst Haltungsfragen des kirchlichen Personals – aber nicht nur: Alle sind gefragt, sonst endet man am Ende beim Pfarrerbashing. Oder theologisch gesprochen: Ein fröhlicher und kluger und – um nochmals an die Temperatur zu erinnern: brennend engagierter Geist steht am Anfang von allem.
Welchen Anteil haben Pfarrpersonen?
TS Pastoraltheologisch gesprochen wissen wir, dass – trotz aller reformierten Gemeindeideale – in der öffentlichen Wahrnehmung der Pfarrberuf nach wie vor als der wesentliche Schlüsselberuf angesehen wird. Zudem weiss man aus den Studien zu erfolgreichen und blühenden Gemeinden, dass hier dann eben doch vieles durch die Pfarrpersonen initiiert wird. Und klar ist auch, dass «gegen sie» in der Regel nichts Bedeutsames ins Leben gerufen werden kann. Insofern sollten Pfarrpersonen sich dieser Erwartungshaltung auch nicht nur bewusst sein, sondern dieser auch positiv entsprechen. Ich habe manchmal aber den Eindruck, wie wenn die pastorale Existenz ein starkes Eigenleben im Gegenüber zur Kirchgemeinde führt, als ob es sich dabei um zwei unterschiedliche Planeten handelt. Ich habe übrigens nicht den Eindruck, als ob das auf Seiten vieler Kirchenvorstände so anders ist – jedenfalls bin ich nicht sicher, ob es immer schon ein gemeinsames Verständnis und Bild davon gibt, welche Temperatur denn nun angemessen und notwendig wäre.
Braucht es eine Passung von Pfarrperson und Kirchgemeinde hinsichtlich der Temperatur – oder gleichen sich beide an?
TS Ich bleibe nochmals bei diesem Bild und frage: Kann es sein, dass Pfarrpersonen und Kirchengemeinde eben die Temperaturmessgeräte an sehr verschiedenen Orten platzieren? Nebenbei bemerkt: Jetzt muss man mit diesem Bild aber ein wenig aufpassen…wie auch immer. Ich habe oftmals den Eindruck, dass für die einen ein heizungswarmer Kirchenraum schon die Erfüllung aller Wünsche ist; wenn es dort behaglich und isolationstechnisch «in der Ordnung» ist, reicht manchen dies. Andere wollen wirklich Neues entzünden, werden aber gegebenenfalls mit dem Argument ausgebremst, dass das wieder einmal nur ein Strohfeuer werden könnte. Und wieder andere richten wirklich tolle Kamintreffpunkte ein und werden dann für eine solche Nischenaktivität schräg angeschaut.
Wie sollen die Kirchen das umsetzen?
TS Nun, erst einmal gibt es – weil die Kontexte der Gemeinden so unterschiedlich sind – keinen wirklichen Masterplan für die eine erfolgreiche Umsetzung. Was an einem Ort als wohltuend warm empfunden wird, kann in einer anderen Gemeinde als unerträglich heiss erlebt werden. Problematisch wäre es dann aber, wenn man sich eben auf eine lauwarme Temperatur in der Mitte irgendwie verständigen würde. Damit ist am Ende vermutlich niemandem gedient. Insofern sind für mich eine Reihe von aktuellen Initiativen und Projekten ganz wichtige «Hotspots», die dann auch weiter ausstrahlen können, und sei es nur, um der depressiven Kälte etwas Lebensdienliches und Fröhliches entgegenzusetzen. Es geht darum, dass Kirche durch alle in ihr engagierten Personen Ausstrahlungswärme zeigt. Insofern ist die Temperaturfrage nicht ohne diejenigen anzugehen, für die man als Kirche wirklich da sein will. Und was Strahlungswärme betrifft, ist natürlich sofort auch die Frage nach den eigenen, persönlichen geistlichen Ressourcen auf der Tagesordnung. Wer nach aussen hin strahlen will, sollte doch innerlich etwas vom Licht des Evangeliums erleben.
Prof. Dr. Thomas Schlag
hat eine Professur für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik, Kirchentheorie und Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich inne. Zudem ist er Mitgründer und Vorsitzender der Leitung des Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE).
thomas.schlag@
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