Von Stefan Grotefeld
Wann immer ich von Distanzierten rede, fange ich mir einen Rüffel ein. Ich verstehe das. Denn wer von Distanzierten spricht, der scheint zu wissen, wo sich das Zentrum der Kirche befindet. Und er macht andere zu Randständigen. Dabei sind es meist kirchliche Mitarbeitende, die sich über den Begriff aufregen, während die, von denen die Rede, ist, weniger Probleme damit haben. Vielmehr haben sie selbst das Gefühl, nicht zum Kern der Gemeinde zu gehören, ohne deswegen gekränkt zu sein. Im Gegenteil, sie fühlen sich dort im Grunde ganz wohl. Und es macht einen Unterschied, ob jemand selbst auf Distanz geht oder andre zu ihr oder ihm. Natürlich kann man sich fragen, ob das Distanzgefühl der Distanzierten nicht dadurch verstärkt wird, dass man sie so nennt. Allerdings ist mir bis heute kein besseres Wort begegnet, um diejenigen zu bezeichnen, die sich nicht oder nur höchst selten am kirchlichen Leben beteiligen. Bis es so weit ist, verwende ich es weiter.
Die Kirchensoziologie hat die Distanzierten bereits vor siebzig Jahren entdeckt. Doch in der kirchlichen Praxis finden sie bis heute nicht genügend Aufmerksamkeit. Unverständlich ist das nicht. Denn natürlich liegt es nahe, sich um diejenigen zu kümmern, die sich für die eigenen Angebote interessieren und daran teilnehmen. Doch auf rund neunzig Prozent der Kirchenmitglieder trifft das nicht zu. Schon deshalb sind sie wichtig. Hinzu kommt, dass längst nicht alle Distanzierten der Kirche von Ferne die Treue halten, wie man einmal meinte. Vielmehr steigt mit der Distanz die Bereitschaft zum Kirchenaustritt, während die Bereitschaft sinkt, die kirchliche Sozialisation der eigenen Kinder zu fördern. In der Stadt Zürich werden inzwischen nur noch rund sechs Prozent aller Neugeborenen reformiert getauft. – Am Umgang mit den Distanzierten entscheidet sich die Zukunft der Kirche.
Mehr Aufmerksamkeit gebührt den Distanzierten aber nicht nur aus strategischen, sondern auch aus theologischen Gründen. Ich glaube, dass sich in der Auseinandersetzung mit den Distanzierten etwas lernen lässt. Denn deren Distanz kommt nicht von ungefähr. Vielmehr sind unsere Angebote offenbar nicht relevant für sie. Wenn wir aber davon überzeugt sind, dass der christliche Glaube auch den Distanzierten etwas für ihr Leben Relevantes zu sagen hat, dann können wir nur im Gespräch mit ihnen herausfinden, was das ist.
Wer sich mit Distanzierten befasst, sollte zweierlei beachten. Zunächst sollte er oder sie sich darüber im Klaren sein, dass es Distanzierte nur im Plural gibt. So kann man beispielsweise unterschiedliche Grade und Gründe der Distanziertheit beobachten. Manche nehmen gelegentlich am kirchlichen Leben teil, andere nie und viele stehen der Kirche einfach indifferent gegenüber. Einige gehen bewusst auf Distanz, weil sie sich über etwas geärgert haben, andere schätzen die Kirche vielleicht aufgrund ihres diakonischen und seelsorglichen Engagements, finden bei ihr aber nichts, was für sie selbst von Bedeutung wäre. Verschiedenartig sind die Distanzierten aber auch insofern, als sie in unterschiedlichen Lebenswelten zuhause sind. Aufgrund der Lebensauffassung, der Lebensweise und der sozialen Lage unterteilt das Sinus-Institut die Schweizer Bevölkerung in zehn verschiedene Milieus. Dass Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten daheim sind, hat nicht nur Konsequenzen dafür, wie man mit ihnen sprechen sollte, will man sie erreichen, sondern vielleicht auch dafür, inwiefern der christliche Glaube für sie von Relevanz ist. Gut möglich, dass dies bei der Arrivierten etwas anderes ist als bei dem jungen Eskapisten, der spass- und freizeitorientiert durchs Leben geht.
Ausserdem sollte man nicht versuchen, aus Distanzierten um jeden Preis Beteiligte zu machen. Wer das versucht, ist zum Scheitern verurteilt und frustriert sich und andere unnötig. Selbstverständlich haben Bestrebungen, mehr Partizipation in der Kirche zu ermöglichen, ihr gutes Recht und verdienen Unterstützung. Die Kirche lebt von Menschen, die sich engagieren. Doch das Bestreben, aus der Kirche eine Beteiligungskirche zu machen, hat Grenzen. Manche Menschen lassen sich vielleicht durch geschicktes Werben gewinnen, andere mögen bereit sein, sich für ein bestimmtes Projekt und für eine bestimmte Zeit zu engagieren. Doch bei vielen anderen stossen derartige Avancen auf keinerlei Resonanz. Das gilt es zu akzeptieren.
Wenn es nicht (nur!) darum gehen kann, aus Distanzierten Beteiligte zu machen, worum geht es dann? Ich finde, es geht um Wertschätzung, Relevanz und Sorgfalt. Mit Wertschätzung meine ich, dass Distanzierte nicht das Gefühl haben sollten, sie seien Mitglieder zweiter Klasse und etwas sei mit ihnen nicht Ordnung. Immerhin sind sie bei aller Distanziertheit Mitglied der Kirche geblieben. Dafür sollten wir ihnen dankbar sein und dies auch auf geeignete Weise zum Ausdruck bringen. Das allein genügt jedoch nicht. Vielmehr kommt es darauf an, dass Distanzierte die Erfahrung machen, dass der christliche Glaube für sie von Relevanz ist. Dabei können solche Relevanzerfahrungen recht unterschiedlicher Art sein und sie sind weder an Beteiligung noch an persönliche Nähe gekoppelt. Dass die Digitalisierung hierfür neue Möglichkeiten bietet, liegt auf der Hand. Nicht zuletzt aber geht es darum, dass Kirche den Distanzierten, wo sie mit ihnen in Kontakt kommt, mit grösster Sorgfalt begegnet. Denn die wenigen Begegnungen, die diese mit Pfarrerinnen und Pfarrern machen, prägen nun einmal deren Bild von der Kirche. Wie gross die Bedeutung von Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten, Abdankungen und Weihnachtsgottesdiensten ist, wissen wir. Aber tragen wir dem auch genügend Rechnung?
Stefan Grotefeld ist seit November 2020 Kirchenratsschreiber der Reformierten Kirche Kanton Zürich. Davor leitete der Theologe und Ethiker während sechs Jahren die Abteilung Lebenswelten der Zürcher Landeskirche.
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