Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Sie sind Jugendarbeiter in einer grossen, vielfältigen Kirchgemeinde und begleiten Jugendgruppen, organisieren Lager und erlebnispädagogische Events. Welche Bedeutung hat die Nähe zu Jugendlichen in Ihrer Tätigkeit?
Pesche Schmid: Nähe ist Bestandteil der Arbeit. Sie gehört dazu. Nähe entsteht in regelmässigen Treffen, gemeinsamen Abenteuern und oft im Teil nach dem offiziellen Event. Nähe entsteht zum Beispiel auch in einem gemeinsamen Gebet, das ist ein intimer Moment. Nähe gibt es überall dort, wo Menschen das Leben, ihre Freude und ihre Angst teilen. Für mich entsteht das auch im Kleinen: Mir ist zum Beispiel wichtig, dass ich jeden und jede mit Namen begrüsse.
Zur professionellen Arbeit mit Jugendlichen gehört die Rollendistanz. Wie bringen Sie Distanzierung und Empathie für die Jugendlichen und ihre Lebenswelt zusammen?
PS: Ich bin nicht sicher, ob die reine Empathie im kirchlichen Umfeld eine anzustrebende Haltung ist. Denn als Christen und Christinnen sind wir so oder so geschwisterlich miteinander verbunden. Die Nähe ist da, ob wir wollen oder nicht. Aber die Bedeutung von Nähe hat sich in meiner bisherigen Tätigkeit verändert. Als 25-jähriger Jugendarbeiter hatte ich eine andere Rolle und eine kürzere Distanz zu den Jugendlichen. Ich hatte mehr Zeit. Heute habe ich drei Kinder und bin verheiratet. Ich habe nicht mehr die Ressourcen, um nach einer Sitzung noch in die Beiz zu gehen oder nächtelang im Kirchgemeindehaus weiter zu diskutieren. Heute lege ich aber im Gegenzug viel mehr Wert auf das Befähigen und Ermächtigen von Jungleitenden. Ich habe einmal ein tolles Referat gelesen mit dem Titel: Freundschaft der Sauerteig der Diakonie. Ich sehe deshalb Freundschaft als Teil meiner Professionalität.
Ich kann mir vorstellen – gerade in Zeiten von #me too – dass von Ihnen in Ihrer Rolle eine hohe Achtsamkeit für die Grenzen in ihrer Rolle verlangt wird?
PS: Mit Frau und Kinder habe ich hier einen Vorteil. Ich habe eine natürliche Distanz zu den Jugendlichen. Und ich habe auch privat einen Freundeskreis, bin also nicht abhängig vom Wohlwollen der Jugendlichen. Das begrenzt schon viele Abhängigkeiten. Dennoch ist es eine Realität, dass es in der Jugendarbeit Grenzverletzungen geben kann. Dem muss man sich bewusst sein. Wir hatten zum Beispiel lange eine Umarmung als Begrüssungsritual. Nun finde ich es nicht mehr angebracht, nicht wegen «me too», sondern weil meine Distanz grösser wird. In meiner Situation wäre es anbiedernd und entspräche mir nicht. Als Jugendarbeiter musste ich schon eingreifen. In einem Fall hat ein erwachsener Leiter anzügliche Bemerkungen gemacht und Fotos von Teenies gespeichert. Als Jugendarbeiter musste ich Verantwortung übernehmen, dass Fotos gelöscht und die rechtlichen Fragen geklärt werden. Einen Leiter musste ich entlassen, weil sein Verhalten gegenüber Teilnehmerinnen nahe war. Sie haben mir berichtet, dass es sich komisch anfühlt. Und das muss mir keine Jugendliche genauer begründen oder belegen. Wenn es sich komisch anfühlt, dann ist es komisch.
Wie thematisieren Sie das Thema Nähe und Distanz in Ihrer Arbeit?
PS: Wir thematisieren etwa alle drei Monate ein sogenanntes Rucksackthema. Also ein Thema, das schwerer verdaulich ist. Zum Beispiel «Suizid» oder «Nähe und Distanz». Es geht um das Wohlbefinden, miteinander unterwegs zu sein – besonders wenn Neue hinzukommen. Ich bereite das mit anderen Jungleitenden zusammen vor. Bei schwierigen Themen wie der Prävention sexueller Ausbeutung ziehen wir auch Fachleute aus Präventionsfachstellen hinzu, die wertvolle Impulse geben können.
Was tun Sie, wenn Sie unter Jugendlichen Unsicherheiten beobachten und die Balance zwischen Nähe und Distanz unter ihnen nicht stimmt?
PS: Wichtig ist, dass ich es anspreche. Aber gerade bei Teenies ist vieles einfach ein Spiel. Das ist nicht immer alles ernst gemeint. Wenn Teenies untereinander herumblödeln ist das nicht dasselbe, wie wenn 18-jährige sich so verhalten. Bei Teenies spreche ich das Verhalten an, ohne es zu verurteilen. Denn eine Entwicklung braucht auch Erprobungsräume. In einem gewissen Alter sind alle zusammen unsicher. Es ist ein jugendliches Suchen innerhalb der Peer-group im gleichen Alter. Meist passiert da kein Ausnützen. Anders ist es, wenn das Alter und die Interessen unterschiedlich sind. Dort muss ich einschreiten.
Je nach Situation empfinden Menschen unterschiedlich. Wie entscheiden Sie, wann es Nähe und wann es Distanz braucht?
PS: Es ist ganz einfach: Ich frage! Bei bestehenden Gruppen kenne ich die Teilnehmenden mit der Zeit und ich weiss, was jede oder jeder braucht. So kann ich gezielter nachfragen. Und ich überlege mir bereits in der Vorbereitung eines Anlasses, bei wem ich nachfragen möchte.
Sind Sie vorsichtiger geworden mit körperlichen Berührungen, seit es eine mediale Missbrauchsdebatte gibt?
PS: Ich habe viel weniger körperlichen Kontakt als früher. Das hat sicher auch mit meinem Alter zu tun und damit, ob ich die Gruppe kenne. Wenn zum Beispiel die Jungschar ein Geländespiel macht, bin ich voll dabei. Die kenne ich sehr gut. In Gruppen, die ich nicht kenne, spiele ich bei körperbetonten Spielen nicht mit. Das ist eine bewusste Entscheidung, die aus der Wildnis- und Erlebnispädagogik kommt. Bei einem Einstiegsspiel ist es entscheidend, ob sich die Gruppe kennt oder nicht.
Wie gehen Sie mit dem Machtgefälle zwischen Jugendarbeiter und Jugendlichen um?
PS: Macht bedeutet im positiven Sinn auch Möglichkeiten. Wenn man sich der Macht bewusst ist, ist man sich der Möglichkeiten bewusst. Ich frage immer: Was für Möglichkeiten kann ich den Jugendlichen eröffnen? Darin liegt aber auch eine Grenze. Ich verfüge nicht über die Jugendlichen. Und ich bin mir bewusst, dass ein Gefälle vorhanden ist, denn ich verfüge zum Beispiel über das Geld. Mein Grundsatz ist: Jugendarbeiter glänzen, wenn unsere Jungen glänzen und wenn ein Empowerment gelingt. Wenn die Jungschar glänzt, ist es nicht wegen des coolen Jugendarbeiters, sondern wegen den tollen Leitenden und wenn es gelingt, dass die Jungleiterinnen und Jungleiter aktiv selber bestimmen und Ideen einbringen. Da ereignet sich dann auch so etwas wie das Potenzial oder die Macht der Jugendlichen.
Pesche Schmid (36) ist Jugendarbeiter in der Kirchgemeinde Herzogenbuchsee.
Er absolvierte eine Lehre als Elektriker. Nach zwei Berufsjahren und dem Militärdienst studierte er am Theologischen diakonischen Seminar in Aarau und wurde Sozialdiakon. Die Weiterbildung zum Wildnis- und Erlebnispädagogen an der CVJM-Hochschule in Kassel bezeichnet er als «genau mein Ding».