Friedrich D. Schleiermachers Erstling konnte sich 1789 ganz unverkrampft an die «Gebildeten» unter den Religionsverächtern richten. «Die Gebildeten», das sind die Kulturmenschen, und ihre Kultiviertheit ist die gemeinsame Grundlage, auf der Differenzen unter Gleichen ausgetragen werden konnten. Gebildet war, wer in einem der Salons das Wort ergreifen durfte. Die Gebildeten waren eine soziale Gruppe.
Wer gebildet ist, hat nicht nur viel abfragbares Wissen angesammelt, sondern ist selbst durch den Bildungsprozess ein anderer Mensch geworden. Das humboldtsche Bildungsideal hat den autonomen Weltbürger vor Augen. Ob man ein kultivierter Bildungsmensch ist oder nicht, zeigt sich nicht in Wissensprüfungen über ein Stoffgebiet, sondern in der lockeren Konversation unter Gleichen. Der Gebildete ist einer, der dazugehört, weil er sich wie ein autonomer Weltbürger zu verhalten weiss. Das Bildungsspiel – so Dietrich Schwanitz, der Bildungskanonist der deutschsprachigen Gegenwart – beruht auf Unterstellungen: Bildung ist die höfliche Voraussetzung unter der die Gleichen untereinander verkehren. «Wie Ihnen bekannt ist …» «Wie Sie sicher alle wissen …».
BILDUNGSESTABLISHMENT
Dieses kulturelle Verständnis von Bildung hat zweierlei zur Folge: Zur Belustigung der Gebildeten echauffieren sich die anderen – Ungebildeten – bisweilen über die viel zu gut bezahlten Studierten dort oben, die nicht mehr wissen was der kleine Arbeiter wert ist. Doch die Empörung derer, die das Bildungsspiel nicht kennen, schon deshalb nicht dazugehören und stattdessen einen messbareren Bezug für gesellschaftliche Hierarchien fordern, so à la: «Der Büezer steht tagelang im Regen, um das Haus zu bauen, das die Architektin am gemütlichen Schreibtisch geplant hat … Warum soll er weniger wert sein?!», entlockt der Kaste der Gebildeten nicht mehr als ein mitleidiges Lächeln. Zu komplex das Thema, für den armen kleinen Vorarbeiter.
Bildungsestablishment funktioniert gut, solange der eigene Bildungsanspruch nicht reflexiv werden muss, sondern auf das andere seiner selbst lakonisch verweisen kann. Doch – und das ist die zweite Folge – scheint diese bildungsbürgerliche Selbstverständlichkeit durch die Universitätsreformen im Zuge von Bologna arg strapaziert zu werden.
DIE GEBILDETEN – DIE BOLOGNAVERLIERER
Bologna meint im Kern nur eines: Es gibt einen Deal zwischen Lehrverantwortlichen und Lernwilligen, über die angestrebten Lernergebnisse. In der Seminarausschreibung definiert Professorin A, was die Studierenden nach der aktiven Teilnahme und der individuellen Vertiefung können werden, und verpflichtet sich, dies in einer geeigneten Form zu überprüfen. Die Lernergebnisse einzelner Kurse sollen auf die Lernergebnisse eines ganzen Studiengangs ausgerichtet sein. Jeder Kurs, jede einzelne Vorlesungseinheit, jede Hausarbeit müsste hinterfragbar sein darauf, was sie dazu beiträgt, ein guter Arzt, eine gute Juristin oder ein guter Theologe zu werden. Um zu wissen, was eine gute Theologin ist, muss man sich darüber verständigen, was eine Theologin tun können soll. Welche Probleme muss sie als Theologin lösen können?
Jetzt werden die Gebildeten unter uns einwerfen: «Aha! Berufsausbildungen! Verwertungszweck vor ganzheitlicher Bildung!» Ja und Nein. Ja, natürlich Ausbildungen, die auf Berufe hinzielen! Denn autonome Weltbürger arbeiten in Berufen, haben dort als Funktionsträgerinnen sozialen Umgang, lösen Probleme, machen Entdeckungen, entwickeln sich weiter, vertiefen ihr Wissen und Können. Das ist aber noch lange keine Verzweckung von Bildung. Gebildete sollen und wollen doch einen gesellschaftlichen Beitrag leisten.
Was die Gebildeten an Bologna schmerzt, ist die Kluft zwischen Bildungsspiel und Universität. Die Absolventen von Studiengängen wissen, was sie können, welchen Problemen sie gewachsen sind, und sie haben gelernt, wer ihnen bei anderen Problemen oder eigenen Kompetenzlücken weiterhelfen kann. Sie sind Teil eines Wissensnetzes, in dem es nicht unanständig ist zu fragen, ob jemand etwas weiss, kann oder schon gelöst hat. Das Bolognaspiel funktioniert kooperativ und transparent. Das Bildungsspiel ist eine Pokerrunde, in der keiner mit seinem Bluff auffliegen will.
THEOLOGIE UND BILDUNG: EINE LANGZEITBAUSTELLE
Humboldt hätte sich im Kreise kooperierender Problemlöser bestimmt wohler gefühlt als am Stammtisch der Altherren- und Altdamenpokerrunde. Für die Kirchen ist Bologna besonders wertvoll. Wenn sie fragen, können sie jetzt wissen, was ihre Theologinnen und Theologen als Studienabgänger mitbringen. Und es ist an ihnen, im Sinne ganzheitlicher Bildung, dieses Potential in einer Berufsausbildung so zu formen, dass aus Theologen Pfarrer werden können. Die Theologischen Fakultäten geben ihren Studentinnen viel Theoriewissen mit. Das ist gut so. Denn ohne dieses ist eine pfarramtliche Praxis nicht zu reflektieren oder theologisch zu verantworten. Aber ohne eigene Spiritualität, ohne Gemeinde und ohne Predigt läuft dieses Theoriewissen in eine gegenstandslose Leere. Dessen waren sich Barth und Schleiermacher gleichermassen bewusst: Theologie ist auf die Kirche ausgerichtet, oder gar nicht.
Denn es gibt nichts, das der theologischen Bildung aus sich heraus eine Einheit gäbe: weder Gegenstandsbereich noch Methode. Und es gibt gute Gründe, dass sich die reformierte Kirche an die universitäre Theologie bindet. Aber diese Bindung und die daraus gewonnene Reputation sind kein Dispens davon, den Bildungsweg von der Theologin zur Pfarrerin zu planen, zu begleiten und das Fortschreiten auf diesem Weg zu beurteilen. Die Ordination, die auf eine einjährige bzw. 14-monatige Berufsausbildung folgt, ist nicht mehr als der Ausdruck eines gemeinsamen Commitments, auf diesem Weg sein zu wollen. Denn Pfarrer und Pfarrerinnen werden gebildet, nicht ordiniert.
Stephan Jütte ist Bereichsleiter Hoch- und Mittelschule in der Abteilung Lebenswelten der Evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich. Als passionierter Schreiberling und Blogger ist er zudem Redaktionsleiter des Blogs:
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