Das Wort steht im Passiv: Gebildet. Es insinuiert, dass jemand, eine Schule, ein Bildungssystem etwas mit mir macht. Erst werde ich gebildet, dann bin ich es. Peter Bieri hingegen meint, bilden könne «sich jeder nur selbst».¹ Dann wäre Bildung Eigeninitiative. Was auch immer andere dazu beitragen – bilden kann ich mich nur selbst.
Was aber tun dann all jene, die sich institutionell für unsere Bildung zuständig erklären? Mit Martin Walser gesprochen nichts Gutes: «Es scheint beim Erzogenwerden darauf anzukommen, sich auch vor sich selbst zu verstellen. Man soll sich selbst undeutlich sein. Dann widerspricht man nicht, wenn sie einem sagen, wer man ist.»²
Die Bildung ist ein normativ aufgeladenes Geschäft. Und in den ersten beiden Lebensjahrzehnten nicht unterschieden von der Erziehung. Das liegt wohl am Eifer des Gefechts, in dessen Verlauf die Bildung Normen transportiert bis zum Anschlag. Soweit das Narrativ.
Unsere christlich geprägte Bildungswelt ist sich ihre Deutungshoheit gewöhnt. Lange standen wir für exklusive Erzählungen und für einen durch das Erzählte bestimmten Sinn. Damit alles an seinem Platz bleibt. Ganz wunderbar skizziert wird das im aktuellen Kinofilm «Die göttliche Ordnung», der die letzten Tage vor der Einführung des Frauenstimmrechtes nacherzählt. Acht Jahre später erscheint Lyotards Werk «La condition postmoderne», das vom Ende der grossen Erzählungen spricht.
DER EINFLUSS DER DIGITALISIERUNG
Seit jenen Tagen wird die normative Funktion von Narrativen brüchig – ohne dass das Narrativ als solches obsolet wäre. Neu ist: Im Kontext der Digitalisierung verschärft sich das Phänomen der Vielstimmigkeit ungemein. Der Kampf geht um Aufmerksamkeit, nicht um Deutung. Nicht was gebrüllt wird, ist entscheidend, sondern wie laut. Konsens gibt es da allenfalls noch als Choral – auch als einen der eingebundenen Misstöne: Flashmob. Verstärkt (nicht hervorgerufen) wird diese Entwicklung durch die Digitalisierung der Kommunikation, der Kultur, der Märkte. Narrative werden definitiv vielstimmig und verändern sich nur noch als Chor. Dabei greifen sie nicht mehr auf eine Partitur («normative Begründungen») zurück, sondern komponieren sich singend – also erzählend. Halten wir das aus?
Der Sinn eines Narratives entsteht und vergeht beim Erzählen. Er ist dem Gespräch nicht mehr vorgelagert. Er schöpft sich aus dem Hier und Jetzt, im spontanen Gestalten von Gemeinschaft – zu welchen Zwecken auch immer: um sich zu bilden, um Arbeit zu organisieren, um eine Gesellschaft zu sein. Die sich treffen, bilden sich für diesen Moment und vergehen dann wieder. Sie bringen ihre Narrative vielleicht mit, aber sie fordern sie nicht zwingend ein, weil der Sinn im Erzählen entsteht, nicht durch Erzähltes.
DAS NEUE PARADIGMA: ERZÄHLEN SCHLÄGT ERZÄHLTES
Was heisst das für theologisches Sprechen und Handeln, für kirchliche Aus- und Weiterbildung? Für Seelsorge, Jugendarbeit und Verkündigung? Es heisst: «Gemeinsames Erzählen bildet.» Erzählen hat noch immer die Funktion der Selbstvergewisserung. Aber jetzt nicht mehr, indem ich auf Erzähltes fokussiere, sondern auf das Erzählen selbst. Ob dieses Phänomen neu ist, weiss ich nicht (Dorothee Sölle lässt grüssen), aber im Moment entwickelt es sich zu einem Paradigma. Zu einem Narrativ. Zu einer Art «Digital Derrida». Für die Theologie übersetzt hat diese bereits 1993 David Tracy mit seinem Buch «Theologie als Gespräch» (Verlag Grünewald/Mainz).
Das Neue am neuen Narrativ ist: Was als Erzählung Sinn hat, entscheidet allein der Kontext – nicht bildet sich der Kontext durch das Erzählte. Das ist ein Paradigmenwechsel. Und wir sind mittendrin. «Sinn» ist nicht mehr Teil einer Lieferung (als Buch, Predigt, Vortrag oder Seminar), sondern Ergebnis eines kollaborativen Produktionsprozesses. Erzählgemeinschaften (Familien, Pfarreien, Clubs, Vereine, Seilschaften, Netzwerke) bilden sich nicht mehr um traditionelle Narrative herum. Sie bilden selber welche und verwerfen sie wieder. Das begegnet mir in digitalen Kulturen wie Makerspace, Coworking, Kollaboration und Blockchain andauernd.
SICH AUS ERZÄHLTEM FREISCHWIMMEN WIRD LEICHTER
Das Gute daran ist: Ich werde als Individuum nicht auf mich selbst zurückgeworfen oder zum einsamen Sinnkonstruktivisten. Schon gar nicht «wegen dieser Digitalisierung». Vielmehr arbeiten wir durch unser Erzählen und Zuhören fortwährend an unserer persönlichen Identität wie auch an der unserer Community. Zwar verliert meine (Herkunfts-)Erzählung den Anspruch der Exklusivität, auch mir selbst gegenüber. Aber dadurch gewinne ich Freiheit: im Erzählen, im Zuhören, im gemeinsamen Produzieren von Sinn. Nicht auszudenken, was das im Schmelztiegel der Kulturen an Chancen bedeutet.
Sich aus Erzähltem frei zu schwimmen führt in immer neue Narrative. Nicht, weil das Erzählte emanzipatorisch wirkt, sondern, weil das Erzählen befreit. Handfest und heilsam. Durch die Digitalisierung eröffnen sich hier ganz neue Räume und Netzwerke. Gelegenheiten der Befreiung und der Verbindlichkeit auf Augenhöhe – letztlich der Bildung von Gemeinschaft. Nur eben ganz anders, als wir es gewohnt sind. Aber wem erzähle ich das ...
¹ ZEITmagazin LEBEN, 02.08.2007 Nr. 32
² M. Walser/A. Ficus (1982): Heimatlob. Insel Taschenbuch, S. 34ff.
TIPP: EIGEN-ARTIG schreiben – Ermutigungen zur eigenen Sprache in Predigt und Andacht (13.–15.11.2016)
Christoph Schmitt ist Theologe, Ethiker und Bildungsdesigner. Er berät Bildungsunternehmen in Fragen der digitalen Transformation. Im Teilpensum arbeitet er am Zentrum für Lernen und Lehren an der Hochschule Luzern mit. Sein neuestes Buch: «Die Moral ist tot. Es lebe die Ethik. Warum ethische Bildung Schule machen muss.» Mehr unter:
www.bildungsdesign.ch