Das Erschreckende der Leere ist mir seit jungen Jahren vertraut. Die nicht totzuschlagende freie Zeit. Das entsetzlich weisse Blatt beim Verfassen eines Deutschaufsatzes. Oder während meines Pfarramts: Ein im «Do It Yourself»-Verfahren der 1990er Jahre entwickelter Instant Dia-Film, der einfach leer aus der Maschine kam, ein bitter durchsichtiger Zelluloidstreifen, und das nach zwei intensiven Arbeitstagen mit Jugendlichen zur Produktion einer Diashow. Das kam für mich an eine Todeserfahrung heran. Eher komisch dann jene Jugendfreizeit, welche mich im Vorfeld sehr gestresst hatte: Konfirmierte wollten sie freiwillig mit mir verbringen, aber nur, wenn kein Programm dafür vorbereitet würde. Leere begehrten sie, nicht Lehre. Schliesslich mein immer wiederkehrender Traum, mich auf einer Kanzel ohne Boden halten zu müssen, weder Namen noch Lebenslauf der verstorbenen Person zu kennen und nun tröstende Worte an die Trauernden richten zu sollen.
KREATIVES VAKUUM
Aber auch die gegenteilige Erfahrung von Leere kenne ich von Jung auf. Ich habe die Schule als eine andere Welt erlebt, in welcher ich als unbeschriebenes Blatt anfangen durfte. Ich habe mich in ihr von der Welt zurückziehen können und in diesem konstruktiven Leerraum meine «Weltfremdheit» kultiviert. Dann die junge Liebe, welche einen Raum eröffnet, in welchem alles Bisherige nicht mehr vorzukommen scheint. «Wir wollen wie zwei seltene Tiere liebesruhen im hohen Rohre hinter dieser Welt» (Else Lasker-Schüler): kreatives Vakuum der Attraktion. Nicht zu vergessen die Freude am Improvisieren auf dem Klavier, wo offen ist, wohin mich Harmonien und Melodien entführen. Später der Genuss an der Zeitbrache, am «Timeout» und «Offline». Das Eintauchen in die Meditation. Berufliche und private Rollen sistieren oder an den Nagel hängen dürfen. Alte Dogmen und fixe Ideen ziehen lassen, abgetragene Verhaltensmuster entsorgen. Einfach präsent sein im leeren offenen, Zwischenraum zum Gegenüber hin.
GOOGLE MAPS UND LABYRINTH
An zwei Orten gleichzeitig zu sein, wurde früher Heiligen zugeschrieben. Überall zugleich zu sein, war Gott vorbehalten. Das digitale Zeitalter ermöglicht theoretisch allen, gleichzeitig überall zu sein. Damit wäre der leere Raum und der Schrecken vor der Leere gebannt. Diesem Weltbild, welches vor allem räumlich gedacht ist, widerspricht mein Menschenbild. Wir sind primär nicht räumliche, sondern zeitliche Wesen. Unsere existentiellen Wege fallen aus Google Maps heraus. Sie gleichen einem Gang durch ein Labyrinth, ohne dass wir dabei wissen, dass es ein planvolles Labyrinth ist, das uns in eine Mitte führen wird. Wir sehen immer nur bis zur nächsten Kurve auf unseren existentiellen Wegen. Und wir können – auch mit digitaler Brille – nie um die Kurve sehen. Trotz dieser «Leere» gehen wir weiter – auf Hoffnung hin. Dafür brauchen wir Zeit. Verglichen mit dem digitalen Tempo sind wir jedoch «langweilige» und «umwegsame» Wesen – zeitlich eben.
EINE MASTERSTORY ZUR LEERE
In einer biblischen Kurzgeschichte zur Leere heisst es: «Als aber Hochwasser kam …». Fluten, äussere und innere, hinterlassen Verwüstungen und Leere. Sie entreissen uns alles. Am Schluss auch unseren Glauben, den wir uns zurechtgezimmert haben. Alle unsere Sicherheiten gleichen einer Sandburg am Strand, die zum Raub der Wellen wird. Aber die vorliegende Geschichte erzählt von einem Baumeister, welcher das Erdreich tief aushebt und das Fundament für das Haus auf Fels legt. «Als dann Hochwasser kam, riss die Flut an jenem Haus, und sie vermochte es nicht zu erschüttern, weil es gut gebaut war.» Die Geschichte vom Hausbau in Lukas 6, 47f ist ein Gleichnis. Es veranschaulicht Menschen, welche Jesu Worte hören und danach handeln. Das ist radikal. Das Wort von der Liebe, das ich in mir aufnehme, das fällt der Flut anheim, wenn ich in ihre Strudel geraten werde. Das Wort der Liebe, das ich aufnehme in mein Herz und als Tat der Liebe weitergebe, das wird die Flut überleben. Das Herz, das sich gegeben hat – das leere Herz wird bleiben. Im Philipperbrief (2,7) wird die Menschwerdung Gottes als «sich leeren» bezeichnet. Gott gibt seine Allmacht her. Und gerade das kann ihm niemand rauben. Gerade so wird er bleiben. Diese unheimliche Dialektik der Liebe ist ein radikales Plädoyer für die Leerherzigkeit, für die Hingabe der Liebe.
LEERE IN KIRCHLICHEN HANDLUNGSRÄUMEN
Ich geniesse im Gottesdienst die Momente der Stille: in der Fürbitte, beim Übergang von einem Element zum nächsten, im Dialog zwischen Wort und Musik. Ich freue mich über den Einzug der «Theorie U» in kirchliche Bildungsprozesse, welche das Lernen aus Erfahrung mit dem Lernen aus der Zukunft anreichert. Anstelle von kompendienhaftem «Download» tritt die «Emergenz», sozusagen die selbstwachsende Saat aus der Tiefe. Mit Blick auf die Kirchenentwicklung beeindrucken mich Ansätze, welche aus der Kraft der Leere schöpfen: Prozessen vertrauen, statt sie zu programmieren – beim Führen und Leiten:
Delegation, statt zu gängeln, Ermächtigung und Beteiligung.
MEIN HANG ZUR LEERE
«Begriffe ohne Anschauungen sind leer», sagt Kant. Demnach muss ich mich persönlich in einer ziemlichen Leere befinden. Ich sehe seit Geburt 20 Prozent, und diese schwarz-weiss. Ich könnte mich als Opfer dieser Leere aufführen, habe aber den Eindruck, es sei positiv für mich. Ich komme mit der massiven Reizüberflutung besser zurecht. Es fällt mir leichter, zu fokussieren, zu elementarisieren, zu erinnern. Das ist ein Vorteil. Und ich muss mich in vielen Situationen auf andere verlassen können. Das fällt mir nicht leicht, aber es macht mich delegationsfreundlicher und vertrauensvoller. Diese Leere ist mir in ihrer Anziehung und Abstossung, in meinem Lachen und Weinen eine gute Lehrmeisterin. Ich plädiere für mehr Leere!
Frieder Furler (1950) war Gemeindepfarrer in Stäfa und dann Abteilungsleiter bei der Zürcher Landeskirche. Nun arbeitet er als freiberuflicher Partner bei der Beratungsfirma F&F Prospektiv.
www.ffprospektiv.ch