Thomas Schaufelberger: Wie ist die Exposure-Methode entstanden?
Herman IJzerman: Als in den Siebzigerjahren die traditionellen Kirchgemeinden in Rotterdam aufgrund gesellschaftlicher Verschiebungen zu verschwinden drohten, mussten wir in unserer damals kleinen reformierten Kirche unsere Präsenz in der Stadt völlig neu definieren. Die Situation war dramatisch. Wir hatten praktisch nur noch unseren Lohn. Wir wussten nicht mehr, wie wir arbeiten sollten.
Wie sind Sie damit umgegangen?
Wir haben nach Inspiration gesucht: Uns haben zum Beispiel die Diskussionen zu «urban mission» im Ökumenischen Rat geprägt. Aber wir mussten dennoch eine eigene Weise finden, mit der wir an unserem Ort arbeiten konnten. In Holland hiess es damals oft, die Kirche müsse ein «Wort für die Welt» sein. Aber wir dachten, dass es eigentlich umgekehrt ist: Die Welt hat uns etwas zu sagen. So haben wir mit Nichts angefangen. Wir waren Nomaden und zogen durch das Quartier. Und dabei entdeckten wir die Haltung der Empfänglichkeit. Wir entdeckten die Armut, die Spannungen und Konflikte, die Komplexität in den Quartieren.
Haltung der Empfänglichkeit – das heisst, Sie mussten vieles aus den Händen geben?
Ja. Unsere neu entdeckte Methode der Präsenz in der Stadt basierte auf den Beziehungen mit den Menschen im Quartier. Wir mussten fragen, was bei ihnen geschieht. Welche Fragen, welche Dilemmata, welche Traumata und Unruhe finden sich bei Ihnen? Wir mussten hören und fühlen, was in einem Quartier eigentlich geschieht. Und wir mussten uns danach in einem reflexiven Prozess fragen, was das alles für unsere Arbeit bedeutet. Das geht nur, wenn man sich Zeit nimmt und leeren Raum aushält.
Ist diese Leere schwierig auszuhalten?
Die Leere kann dich auch zerstören. Wir sind so trainiert, dass wir immer gleich etwas tun wollen. Es gibt eine Motivation, die Welt zu verändern oder zumindest Gott in der Welt zu entdecken. Aber wenn ich auf die Strasse gehe und mich aussetze, dann wird meine Motivation immer konfrontiert mit der Leere. Der leere Raum löst die Gewissheiten auf. Ich weiss nicht mehr, was ich eigentlich soll. Es kommt zu einer Leere, zu einem Nicht-Wissen, das entscheidend ist. Es verzögert eine Antwort, es lässt die Klarheit warten. Es zwingt, langsamer zu werden. Wir haben auch die Erfahrung gemacht, dass in dieser Leere die uns vertraute Sprache nicht mehr funktioniert. Das macht ungeheuer verletzlich.
Und was geschieht dann?
In der Leere gibt es eine Möglichkeit der Offenbarung. Aber wir haben sie nicht mehr in der Hand. Es gibt in der Philosophie eine längere Tradition der Leere. Walter Benjamin hat dieses Konzept als «dialektischen Stillstand» bezeichnet. Es geht dabei um eine Schwelle, an der etwas passiert. Wenn ich zum Beispiel als Pfarrer auf Hausbesuch gehe und in dem Moment, in dem ich herein gebeten werde, alles ablegen kann und die Leere zulassen kann, dann ist das ein dialektischer Augenblick, in dem etwas geschehen kann. Walter Benjamin hat gemeint, dass sich der Messias auf der Schwelle zeigt.
Der leere Raum hat also eine inhaltliche Bedeutung?
Er wirkt auch hinein in die Theologie. Im dialektischen Stillstand der Leere wird auch das Subjekt der Theologie ungewiss: Bin ich es als weisser Mann, ist es mein Nachbar aus Surinam mit katholischem Hintergrund oder ist es eine islamische Frau aus dem Quartier? Es geht in unserer Arbeit also auch darum, Subjekte zu finden, um die theologische Reflexion im Dialog mit dem leeren Raum zu vollziehen. Hier gibt es keine Kontrolle mehr, keine Orientierung. Man muss sich verlieren und warten, um zu klären.
Reflexion scheint eine wichtige Komponente zu sein, um der Leere standzuhalten?
Das Nachdenken darüber, was der leere Raum bedeutet und was im dialektischen Stillstand geschieht, gehört zur zentralen Aufgabe. Und das muss immer in einer Gruppe geschehen. Diese beiden Elemente – Teams und eine andauernde Reflexion – sind der einzige Weg, in der unsicheren Situation des Nicht-Wissens. Das gilt auch für klassische Pfarrpersonen. In Rotterdam trifft sich zum Beispiel monatlich eine Reflexionsgruppe von acht Pfarrerinnen und Pfarrern. Wir haben schon in den Anfängen gemerkt, dass diese Reflexion in Teams besser geht. Drei hören mehr als einer alleine. Unsere Methode beinhaltet ein ständiges – auch theologisches – Lernen. Und wenn zu Beginn keine Antworten da sind – nur Leere –, müssen wir warten, bis es sich klärt.
Von Thomas Schaufelberger,
Leiter A+W
Herman IJzerman ist niederländischer Theologe und Pfarrer der reformierten Kirche. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern der Quartierseelsorge und zu den Entdeckern der Exposure-Methode für eine theologische Sozialraumwahrnehmung. Die Methode wird auch in der niederländischen Pfarr-Ausbildung verwendet.
www.korschippers.nl
9.–18. April 2018
Begegnungen im Iran
Geschichtliche Wurzeln – vielfältige Traditionen – lebendige Kulturen