Ich komme gerade von einem Besuch von lutherischen Kirchgemeinden in Südafrika und Namibia. Deutschstämmige, vorwiegend weisse Gemeinden und schwarze Gemeinden, die von jeweils unterschiedlichen Ethnien geprägt sind. Allen ist die Gemeinschaft und der Zusammenhalt wichtig. Allen ist ihr Glaube wichtig, der ihr Selbstverständnis und ihren Alltag prägt. Die Gottesdienste sind gut besetzt, die Musik in den schwarzen Gemeinden ist mitreissend, in den weissen Gemeinden gibt es nachher Kaffee und Kekse. Die Kinder sind selbstverständlich im Gottesdienst mit dabei, überall kennt man einander, nimmt Anteil an den täglichen Freuden und Sorgen. Und so gibt es unzählige Gruppen, die sich in und ausserhalb der Gemeinde engagieren: Suppenküche, Hilfe bei den Hausarbeiten, Jobvermittlung, Anlaufstelle bei häuslicher Gewalt und Aufklärung zu HIV/Aids. Lebendige und aktive Gemeinden.
Aber auch sie klagen darüber, dass ihre Kirchen Mitglieder verlieren und die Kinder die Gemeinden verlassen. Entweder treten diese ganz aus oder sie gehen zu einer der charismatischen Gemeinden, die in grosser Zahl aus dem Boden schiessen. Weshalb sind diese neuen Gruppierungen so attraktiv? Sind es die charismatischen Führer oder deren «prosperity gospel», mit dem sie ihren Gläubigen materiellen Segen und Wohlstand verheissen? Ist es die aufgeheizte Emotionalität dieser Mega-Churches oder ihre einfache Botschaft, welche die Welt eindeutig in Gut und Böse aufteilt?
BRENNENDE ÜBERZEUGUNG
Nachher kommt ein Junge zu mir und erzählt mir, warum er sich in einer solchen Gemeinde mehr zuhause fühlt als in seiner Kirche. Dort treffen sie sich unter der Woche in kleinen Hauskreisen. Er hat einen Mentor erhalten, der ihn in seinem Christsein begleitet und fördert. Und er erhält klare Informationen, was Christsein ausmacht, wie man die Bibel liest, wie man sich verhält und was Gut und Böse ist. Er sagt, das hätte ihn ins Herz getroffen und sein Leben verändert. Er ist weit davon entfernt, anderen ihr Christsein abzusprechen. Er hat einfach für sich eine Heimat gefunden, in einer Gemeinde, in der die möglichst vollständige Ausrichtung des Lebens an der Bibel, die persönliche Heilsgewissheit und das Wachsen im Glauben wichtig ist. Wichtiger vielleicht als die unvoreingenommene Auseinandersetzung mit dem Denken einer säkularen Welt.
Das klingt bekannt. Auch ich bin dazumal als Teenager von der traditionellen Landeskirche zu einer freikirchlichen Gemeinde» übergelaufen»; zunächst, weil diese die fetzigere Musik hatten und viel mehr junge Leute. Aber vor allem deswegen, weil das Christsein hier nicht nur am Sonntagmorgen stattfand, sondern den gesamten Alltag betraf . Wir haben die «Königsherrschaft Christi über alle Bereiche der Welt», wie es Calvin nennt, sehr ernst genommen – mitten in unsere Beziehungen, unsere Auseinandersetzung mit den Eltern, unsere Berufswahlpläne hinein. Die Bibel war der Bezugsrahmen für unser gesamtes Leben. Uns alle in der Gemeinde, Junge und Alte, einte die brennende Überzeugung, dass die persönliche Beziehung zu Jesus Christus das Wichtigste ist in unserem Leben. Und so war auch unser gesamtes Alltagsleben in und mit den Brüdern und Schwestern in der Gemeinde verbunden und verflochten. Das hat die Gemeinde geprägt und getragen, an Ehrenamtlichen war nie Mangel, die Jugendlichen wuchsen in die Jugendarbeit hinein, und die Verbindung mit den ausgesandten Missionaren hielt auch die Verantwortung für die weltweite Kirche wach. Eine lebendige Gemeinde.
GIBT ES BEGEISTERUNG NUR AUF EVANGELIKAL?
Ich fühle mich mittlerweile in der Landeskirche wohl. Mit der dualistischen Sichtweise «gläubig – ungläubig» und der oft unkritischen Auslegung biblischer Texte in evangelikalen Gemeinden tue ich mir schwer. Aber das Engagement, die Verbindlichkeit und ja – das Feuer der Gemeinde meiner Jugend fehlen mir manchmal. Muss man dafür allerdings wirklich überzeugt sein, dass die Menschen ohne den Glauben an Jesus Christus als ihren persönlichen Erlöser auf ewig zugrunde gehen? Und muss man dafür «die Bibel» gegen den säkularen Zeitgeist in Anschlag bringen? Gibt es also die Begeisterung, das vorbehaltlose Engagement, die familiären Beziehungen und die Durchdringung des Alltags nur auf evangelikal? Oder ist eventuell der Wunsch danach selber schon Ausdruck einer bestimmten Milieuzugehörigkeit? Könnte es sein, dass ich einfach nostalgische Erinnerungen an gute Zeiten mit mir herumtrage, die sich in meine Vorstellung von lebendiger Gemeinde hineinschleichen? Und dass dies auch hinter den Visionen mancher Kirchenentwicklungen steckt, welche eine hohe soziale Bindung theologisch überhöhen?
GLUT WÄRMT NACHHALTIG
Es gibt gute Gründe, Kirche nicht mit einer allumfassenden religiösen Gemeinschaft zu identifizieren, sondern es den Mitgliedern freizustellen, welchen Grad an Nähe und Distanz sie haben möchten. Wenn eine starke Kirchenbindung als alleinige Form von Kirchenmitgliedschaft und Norm von lebendiger Gemeinde betrachtet wird, werden damit andere herabgesetzt oder sogar ausgeschlossen. Menschen, die durchaus für kirchliche Themen und Projekte ansprechbar sind, dies aber nicht mit einem «ganz und gar Engagement» vereinbaren können oder wollen. Menschen, welche Christsein pluralistisch verstehen und die Bibel vor dem Hintergrund von Wissenschaft und Kultur lesen. Kirche, die auch aus solchen Mitgliedern besteht, ist Kirche jenseits von inhaltlichem und strukturellem Fundamentalismus. Sie nimmt ihren Auftrag ernst, für alle da zu sein. Das Feuer ist dort vielleicht eher als Glut spürbar, die zwar nicht gleich sichtbar ist, aber dennoch nach-
haltig wärmt.
PD Dr. Christina Aus der Au ist theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung der Universität Zürich. Zudem präsidierte sie den Deutschen Evangelischen Kirchentag 2017 Berlin und Wittenberg und ist seit 2013 Vorstandsmitglied beim Deutschen Evangelischen Kirchentag. An der Universität Erlangen-Nürnberg hat sie eine Gastprofessur und ist seit 2008 Privatdozentin an der theologischen Fakultät Basel. [tocco-encoded-addr:OTksMTA0LDExNCwxMDUsMTE1LDExNiwxMDUsMTEwLDk3LDQ2LDk3LDExNywxMTUsMTAwLDEwMSwxMTQsOTcsMTE3LDY0LDExNywxMjIsMTA0LDQ2LDk5LDEwNA==]
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(ab 5. Juni 2018, 5 Tage)