Von Regine Munz
Als Psychiatrieseelsorgerin begegnet mir Scham bei Patienten und Patientinnen. Sie schämen sich darüber, in der Klinik zu sein, psychisch krank zu sein und nicht mehr mit den eigenen Problemen zurechtzukommen. Sie erzählen von der Scham überhaupt da zu sein, nicht gewollt zu sein, von der Scham über ihr Sosein, über die Trauer darüber, nicht als die gesehen und respektiert zu werden, die sie sind, sondern mit einem Makel behaftet zu sein, oder von der Scham, wieder einmal in die Sucht abgerutscht, oder die Partnerin eines Süchtigen zu sein. Aber auch die Scham, keine Kirchgänger oder nicht im engeren Sinne religiös zu sein und doch mit der Pfarrerin ein Gespräch zu führen, wird zum Thema in der Seelsorge, oft indirekt in Form einer Schamabwehr, indem die Kirche angegriffen und ihr Personal beschämt wird.
Es ist immer wieder ein sehr heikler und langwieriger Prozess, zur verborgenen Dimension des Schamgefühls zu gelangen und sie zur Sprache zu bringen, ohne zugleich die persönlichen Grenzen und Schutzwälle des Anderen zu beschädigen. Ein Gespräch, in dem sowohl Scham erlaubt wird und zugleich die Möglichkeit zur Selbstoffenbarung und Selbstreflexion geschaffen wird, ist eine Gratwanderung zwischen Respekt vor dem Bedürfnis nach Selbstverborgenheit und dem Offenbarungsbedürfnis. Die Seelsorgerin muss wahrnehmen, dass sie beteiligt ist, oft als diejenige, die beschämt, weil sie hinschaut, und gleichzeitig auch die Rolle hat, das ans Licht zu bringen und zu benennen, was als beschämend erlebt wird, und sie muss zugleich die Wertschätzung der anderen Person vermitteln, als die, welche Zeugnis von der «Urwertschätzung» der Menschen im gnädigen Angesicht Gottes gibt. Und es ist natürlich auch die Aufgabe der Seelsorgerin, sich in geeigneten Gefässen wie etwa Supervision mit den eigenen Schamgefühlen auseinanderzusetzen.
Die jüdisch-christliche Tradition kennt vielerlei Formen des Umgangs mit Schuld und Sünde. Kennt sie in unserer fast als Schamkultur beschreibbaren Gegenwart auch Formen des Umgangs mit Scham? Scham ist unangenehm und geht nahe. Scham wird als ein unkontrollierbares und das Ich überflutendes Gefühl empfunden, welches den Menschen, der Scham empfindet, zur Passivität verurteilt: Die unangenehme Seite der Scham zeigt sich überdies körperlich: Charakteristisch für die Scham ist das Erröten. Innerlich wird Scham als aufsteigende Hitze gespürt, «wie ein begossener Pudel»; wer sich schämt, zuckt zusammen, schlägt die Augen nieder, schrumpft innerlich.
Passivität gehört ebenfalls zum Schamgefühl: Man wird zum Opfer einer Situation, findet sich an einen Ort gebannt, obwohl man weglaufen möchte. Zur Störanfälligkeit und Widerständigkeit des Themas kommt noch ein weiteres Problem dazu: Scham ist nicht eindeutig, nicht immer offensichtlich. Scham wird verborgen. Denn die Vorstellung des Verschwindenwollens und sich Verbergenwollens ist spezifisch und untrennbar mit dem Schamkonzept verbunden: Es geht um den Versuch, nach aussen hin für fremde Blicke unsichtbar zu sein, und den Versuch, nach innen nichts mehr zu fühlen und nichts zu wissen.
Im seelsorgerlichen Gespräch mit Menschen in der psychiatrischen Klinik stellt sich mir immer wieder die Frage nach einem je individuell möglichen, guten Umgang mit der Scham. Wie gelingt es, dass sich Menschen, die aus Scham verstummt sind, aus ihren Rückzugsorten hervorwagen und vor die Vorhänge des Schweigens treten? Wie kann der Weg des homo incurvatus in se heraus aus der inneren Emigration begleitet werden? Es ist meines Erachtens eine sich über lange Zeiträume ereignende, in vielen Gesprächen praktizierte, unermüdlich geduldige und respektvolle Haltung des seelsorgerlichen, freundschaftlichen oder therapeutischen Gegenübers, welche zu kleinen und momenthaften Aufbrüchen ermuntern kann. In dem lateinischen «re-spectare» klingt dies an, das respektvolle, aufmerksame Zurückschauen auf den Anderen. Speziell für Menschen, deren Grenzen gewaltsam verletzt wurden, ist das exemplarische Wahren der Schamgrenzen durch das Gegenüber wichtig. Der wertschätzende Respekt beachtet das Schutzbedürfnis des Anderen, welches im Schamgefühl zum Ausdruck kommt. Er achtet die Grenzen des Anderen und frustriert zugleich dessen Offenbarungsbedürfnis nicht. Manchmal bleibt nur der Respekt vor der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts der destruktiven Antriebe und Kräfte des massiv Beschämten übrig, und gerade dies wirkt heilsam und ermöglicht eine Begegnung.
Der anerkennende Blick kann für das Selbsterleben schamerfüllter Personen heilsam sein. Die Bejahung des Anderen wird im wechselseitigen Blick und in der menschlichen Segenshandlung vermittelt. Denn in dem, was sich im wechselseitigen Ansehen und Angesehenwerden zwischen Gesichtern ereignet, geht es immer wieder auch um Segen, um liebevolle Akzeptanz und Bestätigung des Selbstwertes. Die grundlegende Bejahung des Menschen, der Akt des Angeschautwerdens, wird in der jüdisch-christlichen Tradition im Segen um die Dimension des Dritten erweitert, zum Blick gesellt sich die Sprache, das Wort, die Bedeutung.
In meiner Arbeit als Psychiatrieseelsorgerin ist die christliche Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders weniger wichtig als die umfassendere christliche Rede von der Gnade Gottes. Die Scham wird der Ort christlicher Gnadenrede. Ein ritueller Hinweis auf diese eschatologische Hoffnung ist im aaronitischen Segen zu finden: Im Gottesdienst, in den Seelsorgegesprächen ist er für meine Arbeit zentral: «Gott lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig.» Hier ist es jetzt schon möglich: Die Scham wird aufgehoben, Menschen werden erkannt und anerkannt als die, die sie sind, im gnädigen Blick Gottes. Im Segen wird die imaginäre Präsenz des fremden Blicks in der Scham zur Präsenz des gnädigen Blicks des mich bejahenden, liebenden Anderen.
Dr. theol. Regine Munz ist Privatdozentin für Systematische Theologie an der theologischen Fakultät der Universität Basel. Zudem ist sie als Psychiatrieseelsorgerin in der Psychiatrischen Klinik Liestal tätig. Sie arbeitet und lehrt u.a. zu den Themen Gnade, Scham und einer Ethik des Andern. [tocco-encoded-addr:MTE0LDEwMSwxMDMsMTA1LDExMCwxMDEsNDYsMTA5LDExNywxMTAsMTIyLDY0LDExNywxMTAsMTA1LDk4LDk3LDExNSw0Niw5OSwxMDQ=]