Schamlos? Da denke ich gleich an zwei Politiker, die sich als Sprachrohr der zu kurz Gekommenen aufspielen und selber ungeniert Milliarden horten. Der eine sitzt am Zürichsee, der andere jenseits des grossen Teichs, beide haben eine grosse Klappe und bringen das Kunststück fertig, als Anwälte der Benachteiligten und Marginalisierten über «die da oben» zu wettern, zu denen sie selber gehören. Skrupellos und ohne das geringste Anzeichen von Scham.
Aber ganz wohl ist mir bei diesen Zeilen nicht. Es ist einfach, beim Stichwort «schamlos» auf andere zu zeigen. Dieses Adjektiv bezieht auch kaum jemand auf sich selber. Schamlos sind immer die andern, und wir Korrekten glauben das Recht zu haben, im Gestus moralischer Empörung auf sie zeigen zu dürfen.
Okay, die beiden Herren treiben es schon weit. Von ihren luxuriösen Residenzen aus verkünden sie als selbsternannte Stimme des einfachen Volkes ihre ebenso simplen wie gefährlichen Heilsrezepte. Das finde ich ziemlich dreist. Nein, so unverschämt bin ich nun wirklich nicht! Da bin ich doch entschieden…
… besser? Moment mal! Wenn ich ganz genau hinschaue, was ich von früh bis spät so mache und wie ich mich durch die Welt bewege, dann… ja dann bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich wirklich eine solch makellos reine Weste habe. Im Dschungel des Alltäglichen kann auch ich ziemlich unverfroren sein. Meistens so diskret, dass es kaum jemand merkt, oft nicht einmal ich selber. Peinlich, ich weiss. Wechseln wir das Thema.
Dies ist die letzte meiner vier Kolumnen an
dieser Stelle. Die Stichworte, zu denen ich schreiben durfte, hiessen «gebildet», «leer», «brennend» und «schamlos». Und hier die Quintessenz: Gebildet ist, wer leere Phrasen meidet, brennend interessiert die Ruhe bewahrt und weiss, dass nicht nur die andern schamlos sind.
Lorenz Marti, der Berner Schriftsteller studierte an der Universität Bern Geschichte und Politikwissenschaften. Er schrieb über etliche Jahre für verschiedene Tageszeitungen und Zeitschriften und war bis 2012 Redaktor Religion beim Radio DRS. 2017 erschien sein fünftes Buch «Der innere Kompass».