Von Klaas Huizing
Zwei unterschiedliche Menschenbilder stossen gegenwärtig im theologischen Diskurs aufeinander: hier die Vorstellung, der Mensch sei durch und durch Sünder und auf Gnade angewiesen, dort die Vorstellung, der Mensch sei autonom und gelingendes Leben ein zwar anstrengendes, aber durchaus nicht zum Scheitern verurteiltes Geschäft. Ich schreibe gegen die Sündenverbiesterung der theologischen Diskursführerinnen und -führer an. Dabei geht es mir nicht nur um die moralische Engführung des Sündenbegriffs, sondern auch um die hermeneutische Dimension des Begriffs: Sünde ist für mich nicht der zentrale Deutungsschlüssel, um mein Leben zu verstehen. Für eine andere Sicht der Dinge stehen biblische Texte und die alttestamentliche Exegese Pate. Alttestamentlern von Rang gelingt es leichthändig mit Vorurteilen – etwa der Rede von der Erbsünde – aufzuräumen, weil in Gen 2–3 das Wort Sünde nicht vorkommt, kein Verhängnis oder Fall beschrieben wird, sondern das erste Menschenpaar frei ist und gerade deshalb das Gebot übertreten kann. Allenfalls wird man mit Blick auf die alttestamentlichen und neutestamentlichen Erzählungen sagen können: Die Menschen haben einen Hang zum Bösen, sind gefährdet, das Leben zu verfehlen; aus dieser Tendenz einen grundsätzlichen Pessimismus abzuleiten, ist allerdings fahrlässig. Ein Schlüssel für die Aufhellung des Sündenpessimismus ist die Emotion der Scham.
Ein Blick auf das Meisternarrativ der Kain- und Abel-Geschichte erlaubt einen neuen Zugriff auf die Sündenthematik, denn dort tritt erstmals im Alten Testament der Begriff «Sünde» auf. Gott, so die literarische Versuchsanordnung, provoziert und beschämt Kain wohlwollend, um ihn auf seine hochproblematische Charakterdisposition aufmerksam zu machen und ihn emotional zu coachen. Das Ergebnis ist hinlänglich bekannt. Kain ist not amused. Ich zitiere die für die biblische Anthropologie massgeblichen Sätze:
4,6 Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? 4,7 Ist´s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Die literarische Figur Gott macht Kain auf die Fallstricke menschlicher Freiheit aufmerksam. Bedeutungsexplosiv wird nochmals nachdrücklich vor Augen gemalt, was Gut und Böse ist und wie der Wille zu entscheiden hat. Zur Grandezza dieses Textes gehört es, die Reaktion auf die missliche Situation des Kain als Melange von Gefühlen zu inszenieren: Kain ist wütend, weil er sich in seiner Ehre als Erstgeborener zurückgesetzt fühlt; er ist neidisch und eifersüchtig, er schämt sich vor seinem kleinen Bruder und den Schamzeugen, den Eltern; diese Wut droht schliesslich in Hass umzukippen. Die Botschaft ist eindeutig: Gott schlägt Selbstbeherrschung und Sensibilität für ein Leben in der Gemeinschaft vor, plädiert für Statusverzicht, um eine gerechte, sprich: egalitäre Ordnung durchzusetzen. Früher hätte man von Demut gesprochen.
Die literarische Figur Gott setzt genau diese Emotion ein, treibt Kain in die Scham. Scham, so der Grossmeister der Schamforschung, Bernard Williams, zielt auf das eigene Selbstbild, fordert zur Charakterschulung auf, darin unterschieden von der Schuld, die sich auf eine Tat dem Opfer gegenüber konzentriert. Scham unterbricht die Handlungsenergie, treibt in die Passivität, eine extrem unangenehme Situation, die mit einem sichtbaren Erröten einhergeht. Kain zieht es nach dem weisheitlichen Intermezzo Gottes willentlich vor, sich nicht zu ändern, will wieder Herr der Situation werden, verschiebt die Scham in die Schuld. Damit beginnt die Spirale der Gewalt. In seiner Autonomie entscheidet sich Kain falsch. Es war sein willentlicher Entschluss, zwingend war er nicht, sonst hätte Gott keinen Coachingversuch unternommen. Nirgendwo steht zu lesen, der Wille sei «verderbt». Sünde heisst also: die Autonomie falsch einzusetzen, heisst den Charakter nicht gemeinschaftstreu und damit gottesverträglich zu bearbeiten und Handlungsimpulse aufgrund von Gefühlen zu zügeln. Gleichwohl erhält Kain von Gott ein Schutztattoo verpasst. Besteht die Pointe der Rechtfertigungslehre darin, zwischen dem Menschen und seinen Taten einen Unterschied aufzumachen, dann ist die Kain- und Abelgeschichte bereits die Keimzelle der neutestamentlichen Rechtfertigungslehre.
Die biblischen Geschichten, namentlich des Alten Testaments, erzählen ein vielfaches Scheitern, aber von einer vollständigen Verkommenheit des Menschen und einem unfreien Willen sprechen sie, wie die Schlüsselerzählung Gen 4 zeigt, nicht. Ein autonomes Leben, das sich dem Willen Gottes willentlich konformiert, ist möglich. Im moralischen Kontext ist Scham der Königsweg zur Charakterformung.
Prof. Dr. Klaas Huizing ist Theologe und Buchautor. Am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat er den Lehrstuhl für Evangelische Theologie inne. Zu seinen Schwerpunkten gehören Systematische Theologie und Gegenwartsfragen. Als Autor hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Darunter «Scham und Ehre – eine theologische Ethik», und er ist Herausgeber des Kulturmagazins Opus. [tocco-encoded-addr:MTA0LDExNywxMDUsMTIyLDEwNSwxMTAsMTAzLDY0LDEwMywxMDksMTIwLDQ2LDEwMCwxMDE=]
Scham und Ehre. Eine Theologische Ethik
Das Buch von Klaus Huizing erschien 2016 im Gütersloher Verlagshaus, München (siehe Rezension Seite 31)
LOS Stufe 2 – Lösungsorientierte Seelsorge Gesprächsführung auf tiefenpsychologischer Basis (4.–8. Juni 2018)