Von Maik Hömke
Vergleicht man den Alltag einer heutigen Kleinstadt mit derselben Kleinstadt von vor 50 Jahren, so fallen einige Unterschiede auf. So verlief das Leben früher «in geordneten Bahnen», in dem die dort lebenden Menschen sich früh auf dem Weg zur Arbeit nach nebenan machten, in der Mittagspause sich alle beim Essen in den beiden Beizen der Gemeinde trafen und den neusten Klatsch und Tratsch austauschten und am Abend noch beim Bäcker oder Metzger Besorgungen machten. Am Wochenende besuchte man das Vereinsfest und sonntags schliesslich den Gottesdienst. Der Alltag heute sieht etwas anders aus: morgens ist in der Kleinstadt der einzig belebte Ort der Bahnhof. Die Menschen verlassen für ihre Arbeit die Gemeinde. Diese bleibt leer zurück: Nur noch wenige Geschäfte sind vorhanden, auch nur noch eine Wirtschaft, die sich seit Jahren hält, obwohl kaum jemand mehr hingeht. Am Abend kommt man kurz nach Hause, steigt ins Auto, erledigt seine Einkäufe beim Discounter auf der grünen Wiese. Und die Freizeit am Wochenende verbringt man in der naheliegenden Grossstadt oder gar im Ausland, bei einem kurzfristigen verlängerten Wochenende mit einem Billigflugangebot.
Auch wenn beide Bilder des Städtchens idealtypisch sind, so zeigen sie doch schön auf, was sich in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Die Mobilität der Menschen ist gestiegen, vor dem Hintergrund eines stetig verbesserten Angebots an kollektiver und individueller Mobilitätsdienstleistungen und, ebenso entscheidend, dem steigenden Wohlstand und der damit verbundenen Möglichkeit, diese Mobilität auch zu zahlen. Diese gesteigerte Mobilität wurde im Laufe der Zeit zur Voraussetzung unseres Alltags: wer modern ist, wer etwas auf sich hält, ist mobil, ist in Bewegung, hält Schritt. Man ist eben nicht mehr verwurzelt, nicht «im-mobil», sondern aktiv, unterwegs, jederzeit bereit an einem neuen Ort tätig
zu werden.
Diese Entwicklung hat auch den Mobilitätsbegriff verändert. Früher bezog sich die Mobilität in der Soziologie auf die Bewegung zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Klassen. Heute bezieht sich der Mobilitätsbegriff auf die physische Mobilität, die eine Ortsveränderung hervor-
ruft. Doch bringt diese Verschiebung des soziologischen Konzeptes von Mobilität Probleme in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Struktur mit sich?
Die zwei wichtigsten Kategorien der Soziologie sind Raum und Zeit. Etwas findet in einem bestimmten Raum über eine bestimmte Zeit statt. Stellte den Raum in unseren Beispiel bisher die Kleinstadt dar, so müssen wir uns von diesem engen Raumbegriff lösen. Dabei geht der Raum jedoch nicht verloren, er erfindet sich quasi neu. So dehnen sich unsere Aktionsräume aus und reichen weit über den Aktionsradius unseres direkten Umfeldes hinaus. Mit dem virtuellen Raum, dem ständigen online sein, eröffnen sich hier noch viele weitere Möglichkeiten.
Die mobilen Zeiten haben also dazu geführt, dass unser Raumbegriff erweitert werden muss. Einerseits sind die Räume, in welchen wir uns bewegen, grösser geworden, andererseits gibt es auch neue Räume, die nur virtuell existieren und die uns die Möglichkeit geben, uns neu und anders zu repräsentieren. Das hängt mit einer besonderen soziologischen Funktion des Raumes zusammen. Dieser muss durch unsere Handlungen oder unser Verhalten angeeignet, mit Bedeutung gefüllt werden.
In der früheren Kleinstadt war diese Aneignung eng verbunden mit dem beruflichen Leben. Den Metzgermeister lernte man vor allem als Metzger kennen, die Pfarrerin über ihr Auftreten als Pfarrerin, usw. Dies ermöglichte zwar eine einfache Einordnung der Welt, für die jeweiligen Personen war aber auch die entsprechende Prägung meist für die gesamte Lebensdauer gegeben. Diese Rolle verlassen konnten sie nur, indem sie an einen andern Ort zogen, also den entsprechenden Raum zurückliessen.
Mit zunehmend ausgedehnten Aktionsräumen und neuen virtuellen Räumen infolge gesteigerter Mobilität kann man ohne den jeweiligen Ort zu verlassen, mehrere Identitäten gleichzeitig bespielen. Man kann zu-
hause weiterhin der Metzger sein, in der Stadt am Abend aber auch der grosszügige Theaterbesucher und im Internet der bekannte Spieleprofi. Man betreut heute also mehrere Identitäten und kontrolliert diese
selbstbestimmt. Das schafft zwar mehr Unübersichtlichkeit, aber auch mehr Möglichkeiten.
Diese «Identitätenbetreuung», diese Möglichkeiten der Entfaltung(en) meiner Persönlichkeit(en) nimmt zusätzliche Zeit in Anspruch. Diese Zeit tritt in Konkurrenz zu anderen Angeboten. Wieder auf unser Beispiel heruntergebrochen: Die Angebote der Kleinstadt treten in (Zeit-)Konkurrenz zu meinen Möglichkeitsorten und möglichen Identitäten. Es gibt nicht mehr das ganzheitliche Leben mit einem einheitlichen Verlauf, welches es wahrscheinlich in dieser idealtypischen Form auch nie gab. Insofern sind alle klassischen Angebote, welche sich an festen Räumen und Zeiten orientieren, in einer zunehmenden Konkurrenzsituation und haben den weiteren Nachteil, nur in einem der vielen Möglichkeitsräume der Individuen stattzufinden.
Die zunehmende Mobilität eröffnet also neue Möglichkeiten zur Identitätsentfaltung im Raum, was gleichzeitig Zeitkonkurrenzen hervorruft. Ist man sich dieser Zusammenhänge aber bewusst, so kann man sich auch die Möglichkeiten aneignen, welche durch neue Mobilitätsformen und neue Raumkonstruktionen entstehen, und damit nicht zum Getriebenen einer gesteigerten Mobilität werden, sondern sich davon beruhigt treiben lassen.
Dr. Maik Hömke ist promovierter Stadt- und Mobilitätssoziologe und arbeitet seit März 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Mobilitätsakademie AG, einer unabhängigen Tochtergesellschaft des Touring Clubs Schweiz (TCS). Vorher war er über lange Jahre Dozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an diversen Schweizer Hochschulen, so an der ETHZ, HSG und HSLU.
[tocco-encoded-addr:MTA5LDk3LDEwNSwxMDcsNDYsMTA0LDExMSwxMDEsMTA5LDEwNywxMDEsNjQsMTE2LDk5LDExNSw0Niw5OSwxMDQ=]