Von Tina Bernhard
Gemeindeentwicklung gehört zu den Aufgaben von Pfarrerinnen und Pfarrern. Im Vikariat werden wir in einer Kurswoche und einzelnen Kurstagen auf diese Aufgabe vorbereitet. Mit einem eigenen Gemeindeprojekt sollen wir die Kompetenzen festigen. Ich habe mich dafür entschieden, meine eigene Bewegungsfreude, das Interesse am Austausch mit und über biblische Texte mit dem Ziel, in der Kirche auch mit jungen Menschen unterwegs zu sein, zu verbinden. Also legten wir – mein Team und ich – los, verteilten Flyer, luden über Facebook ein, warben im Konf-Unterricht, Gospelchor, Freundeskreis, auf der Gemeindehomepage, in Veranstaltungskalendern und machten in den Sportvereinen auf uns aufmerksam.
Am Samstagmorgen, 24. März 2018, ist es so weit: Das Projekt «Bewegen in der Kirche» kann beginnen. Die reformierte Kirche in Langnau am Albis ist leer. Neben dem einsamen Taufstein vorne in der Mitte, einem Beamer und Glaskaraffen mit Gurkenwasser stechen einzig die noch eingerollten, roten Turnmatten ins Auge. Aus den Lautsprechern tönt Electropop. Wir vom Team sind nervös. Werden Leute kommen? Auch junge Erwachsene, die wir besonders ansprechen wollen? Im Vorfeld haben wir alle ähnliche Rückmeldungen erhalten: «Klingt toll, aber ich weiss es noch nicht.» «Wir kommen vielleicht.» «Wird es sehr anstrengend?» «Wie geht das, biblische Texte sportlich interpretieren?» Auch für uns ist es ein Experiment. Wir wissen nicht, wie es herauskommen wird. Unser Ziel ist es, Spiritualität und Bewegung zusammenzubringen, uns durch biblische Texte (neu) bewegen zu lassen, auch ganz körperlich. Und wir wollen den Kirchenraum einmal anders erleben. Aus reformierter Sicht ist die Kirche ein Versammlungsraum und kein heiliger Raum. Über Bänke springen, Treppensteigen bei der Kanzel und Liegestützen am Taufstein sind also erlaubt, solange wir nichts beschädigen.
Mit dem 10.00-Uhr-Glockenschlag stehen 16 Personen bereit. Sie haben ihre Taschen auf der hintersten Kirchenbank verstaut, die Turnschuhe geschnürt. Die jüngste Teilnehmerin ist acht Jahre alt, die älteste 76. Ein Drittel von ihnen sind Jugendliche und junge Erwachsene. In Sportkleidern setzen wir uns auf die Turnmatten, welche wir in einem Kreis um den Taufstein ausgelegt haben. Nach der Begrüssung und der Vorstellung des Teams erkläre ich mein Projekt «Bewegen in der Kirche» und blicke dabei in freundliche, aufmerksame Gesichter. Unser Programm: Im ersten Teil bis 11.00 Uhr interpretieren wir in vier Gruppen zwei Bibeltexte sportlich. Danach gibt es 10 Minuten Pause. Im zweiten Teil setzen wir die in den Gruppen vorbereiteten sportlichen Interpretationen alle gemeinsam um. Nach einer kurzen Feedbackrunde sind um 12.00 Uhr alle zu frischen Smoothies und Snacks im Pfarrhaus eingeladen.
Damit die sportliche Interpretation möglichst niederschwellig und lustvoll abläuft, geben wir den Teilnehmenden ein paar Hintergrundinformationen zu den beiden ausgewählten Bibeltexten Psalm 139,1–10 und Apg 2,2–13 (Pfingstereignis): Wo in der Bibel stehen sie, worum geht es, was ist ein Psalm, wann wurden sie etwa verfasst? Die Gruppen «Einwärmen» und «Kraft» interpretieren das Pfingstereignis, die Gruppen «Kondition» und «Dehnen» den Psalm. Bei jeder Gruppe ist jemand vom Team dabei. Als Hilfestellung projizieren wir über den Beamer Fragen und Hinweise, welche bei der Umsetzung unterstützen.
Nach anfänglichem Zögern fangen die einzelnen Gruppen an zu lesen und diskutieren. Immer mehr beginnen sie, Bewegungen auszuprobieren. Die Gruppe «Kraft» sitzt in den Bänken, steht auf die Bänke, kriecht am Boden herum. Eine Gruppe unterhält sich angeregt auf den Turnmatten vorne neben dem Taufstein und verrenkt Arme und Beine. Andere erkunden joggend die Kanzel und die Umgebung rund um die Kirche. Alle sind rechtzeitig fertig, das gemeinsame Bewegen in der Kirche kann beginnen.
Es läuft die im Voraus zusammengestellte Playlist für das Einwärmen: Electroswing, natürlich nur instrumental. Der Bibeltext soll für sich sprechen können. Die Verse, Passagen und Worte aus den Bibeltexten, die jeweils mit einer Bewegung interpretiert werden, stehen projiziert auf der Leinwand. Die Gruppe «Einwärmen» zeigt die Bewegungen zum Pfingst-
ereignis vor und erklärt, wie sie darauf gekommen ist. Es macht Spass. Stufensteigend und armeschwingend spüren wir das Brausen des Geistes. Wir fuchteln wild in typischen Gesten verschiedener Kulturen und verstehen uns wie im Pfingstereignis. Im Kraftteil erkennen wir die grossen Taten Gottes als unsere Kraft, und vor Entsetzen über die Feuerzungen springen wir über die Kirchenbänke. Zum Psalm 139 wechseln wir so schnell wie möglich vom Sitzen zum Stehen und zum Liegen auf den Kirchenbänken. Wir versuchen vor Gottes Angesicht zu fliehen auf die Empore und auf den an die Kirche angrenzenden Friedhof zum Totenreich, wo uns nahestehende Menschen begraben sind. Die Stimmung wird andächtig. Spätestens jetzt kommen alle ins Schwitzen. Gott ist bei uns und auch bei den Toten.
Zurück in der Kirche bei den Dehnübungen wird unser Atem ruhiger. Zu Klaviermusik hören wir Sätze aus Psalm 139. Mit geschlossenen Augen drehen wir unseren Oberkörper ab und legen die Arme um unsere Seiten. Hinten und vorne hälst du mich umschlossen. Wir spüren unsere warmen Hände auf dem Gesicht. Und deine Hand hast du auf mich gelegt. Es läuft mir ein Schauer über den Rücken, der Text bekommt eine neue Dimension.
Nicht nur wir vom Team sind begeistert und beschwingt. «Ich habe den Kirchenraum einmal ganz anders erlebt. Es ist gar nicht so schwer, einen biblischen Text zu interpretieren.» Auf die Frage, ob sie wieder mitmachen würden, kommt uns ein freudiges Nicken entgegen. Das Experiment ist geglückt, wir sind bewegt.
Tina Bernhard ist Vikarin in Langnau am Albis. Im Gemeindeprojekt Bewegen in der Kirche konnte sie die eigene Bewegungsfreude, das Interesse am Austausch mit und über biblische Texte und ihr Ziel, in der Kirche auch mit jungen Erwachsenen unterwegs zu sein, miteinander verbinden. [tocco-encoded-addr:MTE2LDEwNSwxMTAsOTcsNDYsOTgsMTAxLDExNCwxMTAsMTA0LDk3LDExNCwxMDAsNDYsMTE0LDEwMSwxMDIsNjQsMTAzLDEwOSw5NywxMDUsMTA4LDQ2LDk5LDExMSwxMDk=]