Von Martin Sallmann
Die Kirche wurde im Laufe der Zeit unterschiedlich geleitet und organisiert. Für die evangelisch-reformierte Tradition lassen sich zunächst zwei Modelle erkennen. Zum einen sah Johannes Calvin für die Leitung der Kirche vier Ämter vor: Pastoren (Pasteurs), Doktoren (Docteurs), Älteste (Anciens) und Diakone (Diacres). Die Genfer Kirchenordnung von 1541 und 1561, die von der weltlichen Obrigkeit eingesetzt wurde, beschreibt diese Ämter ausführlich. Dabei ist theologisch die Vorstellung grundlegend, dass Jesus Christus selbst seine Kirche leitet. Die Amtsinhaber waren daher nicht Vertreter der Gemeinden, sondern Beauftragte Christi.
Zum andern fassten die Kirchen im Einflussbereich der Zürcher Reformation im Pfarramt verschiedene Aufgaben zusammen. So beschreibt die Zürcher Prediger- und Synodalordnung von 1532 in drei Teilen zuerst die Prüfung, Wahl und Einsetzung der Pfarrer, dann deren Lehre und Leben und schliesslich den Inhalt und die Form der Synoden, die von allen Pfarrern und acht Ratsmitgliedern zu besuchen waren. Nahezu unverändert blieb diese Ordnung 300 Jahre lang gültig. Mit der Loslösung von der bischöflichen Gerichtsbarkeit musste die Ehegerichtsordnung neu geregelt werden. In der Stadt stand ein gemischtes Gremium mit vier Räten, zwei Pfarrern und einem Schreiber dem Ehegericht vor. Aus dem Ehegericht erwuchs nach wenigen Jahren ein Sittengericht, welches das Leben von Kirche und Gesellschaft beaufsichtigte. Auf der Landschaft sollte in jeder Gemeinde eine entsprechende Institution eingerichtet werden. Untervogt, Pfarrer, «Ehegaumer» (Ehehüter) und «Ältere» werden als Mitglieder genannt. Die Bezeichnungen und auch die Zusammensetzungen können sich ändern. Wichtig für unseren Zusammenhang ist, dass ein gemischtes Gremium nach dem Gottesdienst in der Kirche blieb, um das kirchliche und sittliche Leben zu beraten. Nachlässige wurden vorgeladen und zur Besserung des Lebenswandels angehalten.
Diese Gremien mit «Ehegaumern» und «Älteren» aus den Gemeinden, die zusammen mit dem Pfarrer das Leben der Gemeinde beaufsichtigten und leiteten, waren die Vorgänger der Kirchgemeinderäte, die nach dem Ende des Ancien Régime im 19. Jahrhundert entstanden. Mit den liberalen Kantonsverfassungen und mit der Ausdifferenzierung zwischen Kirche und Staat wurden die kirchlichen Gremien umgestaltet und demokratischen Vorstellungen angepasst. Die Synoden wurden zu den obersten legislativen Behörden der Kantonalkirchen. Umfassten sie früher vor allem die Pfarrerschaft, wie heute noch in Graubünden, wurden sie in moderner Zeit gemischt mit Pfarrern und Laien besetzt – in Basel und Bern 1874, in Zürich 1896. Die einzelnen Kirchgemeinden erhielten eine starke Stellung und wurden mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet. Der Kirchgemeindeversammlung kamen als legislativem Organ folgende Aufgaben zu: die Wahl des Kirchgemeinderates, der Abgeordneten in die Bezirks- und Kantonssynode, der Geistlichen, die Verfügung über das Kirchengut, die Ausschreibung der Kirchensteuern sowie allgemein «die Förderung des örtlichen Kirchenwesens und des sittlich-religiösen Lebens der Gemeinde» (Kirchengesetz Bern 1874, §12). Der Kirchgemeinderat als exekutives Organ war zuständig für den kirchlichen Unterricht, den Gottesdienst, die Feier der Sonn- und Festtage, für die Kirchengebäude und deren Benutzung, für die wirtschaftlichen Belange und den Ertrag des Kirchengutes.
Bis in die Gegenwart sind die Kirchgemeinden die grundlegende und strukturierende Grösse der kantonalen Kirchen geblieben. Sie werden durch die Kirchenpflege (Zürich) oder Kirchenvorsteherschaft (St. Gallen), den Kirchenstand (Schaffhausen), Kirchgemeinderat (Bern) oder Kirchenvorstand (Basel, Graubünden) geleitet. Sowohl im Genfer als auch im Zürcher Modell wurden das Pfarramt und die übrigen Ämter zwar unterschieden, aber sie wirkten eng zusammen. Pfarramt und Kirchgemeinderat sind auch heute noch zu unterscheiden, weil sie unterschiedliche Aufgaben haben, aber sie sind nicht zu trennen. Daher nehmen im Kirchgemeinderat neben den gewählten Mitgliedern auch die Pfarrerinnen und Pfarrer sowie weitere kirchliche Mitarbeiter Einsitz, um dort in der Leitung der Kirchgemeinde zusammenzuarbeiten.
Auch wenn die Aufgaben seit dem 19. Jahrhundert in einer eigenen kirchlichen Gesetzgebung ausdifferenziert und präzisiert worden sind, bleibt nach wie vor die «Wahrung und die Förderung des kirchlichen und sittlichen Lebens» (Kirchengesetz Bern 1945/2014, Art. 17) die Grundaufgabe der Kirchgemeinden, und zwar eine geistliche Grundaufgabe. Sicher werden im Kirchgemeinderat die Aufgaben je nach Ausbildung und Begabung aufgeteilt. Die Verantwortlichen für die Finanzen werden eine entsprechende fachliche oder berufliche Bildung haben, und doch tragen alle die Verantwortung für eine ausgeglichene Rechnung. Die Pfarrerinnen und Pfarrer sind für das gottesdienstliche Leben verantwortlich, und doch trägt der Kirchgemeinderat auch die Verantwortung für das geistliche Leben der Kirchgemeinde. Eine Trennung in geistliche und wirtschaftliche oder administrative Aufgaben lässt sich in dieser presbyterial-synodalen Ordnung der Kirchen, in der Pfarramt und Kirchgemeinderat aufeinander bezogen sind, nicht plausibilisieren. Vielmehr geht es um ein Zusammenwirken von Pfarramt und Kirchgemeinderat in der Leitung der Kirchgemeinde, die immer wieder neu überlegt und auf die jeweiligen Begebenheiten und die entsprechenden Bedürfnisse ausgerichtet werden muss.
Prof. Dr. Martin Sallmann ist ordentlicher Professor für Neuere Geschichte des Christentums und Konfessionskunde am Institut für Historische Theologie an der Universität Bern. Seine Forschungsschwerpunkte liegen bei der Geschichte des Protestantismus von der Reformation und Konfessionalisierung über die Orthodoxie bis zu Pietismus und Erweckungsbewegung sowie bei der Geschichte des Christentums in der Schweiz.
[tocco-encoded-addr:MTA5LDk3LDExNCwxMTYsMTA1LDExMCw0NiwxMTUsOTcsMTA4LDEwOCwxMDksOTcsMTEwLDExMCw2NCwxMTYsMTA0LDEwMSwxMTEsMTA4LDQ2LDExNywxMTAsMTA1LDk4LDEwMSw0Niw5OSwxMDQ=]
Miteinander Gemeinde bauen – Wie kommen wir zu einem echten Miteinander von Profis, Behörde und Freiwilligen? (3.–5. November 2019)