Eine eigene Meinung zu haben setzt voraus, dass man sich eine Meinung gebildet hat. Sich eine Meinung bilden bedeutet, dass man eine Sachlage bewertet und darüber ein Urteil fällt. Ich staune, mit welcher Lust überall bewertet und beurteilt wird, wie Urteile gefällt und Meinungen kundgetan werden; in einem Tempo, dass einem ganz schwindelig wird. Wie immer alle über alles Bescheid wissen, denke ich oft und bewundere deren Urteilskraft, also mehr die Kraft als die Urteile. Glaube, Gender und Rassismus sind beliebte Themen, bei denen die Leute wütend nach der Axt greifen, um hemmungslos zu fällen. Aus dem Shitstorm wächst ein Hurrikan und in Windeseile sind die Zeugnisse der Zivilisation weggefegt. Da wird bis zur Durchsicht gefällt und gerodet, es wird leidenschaftlich durchgefällt.
Sich eine Meinung bilden setzt also voraus, dass man sich über ein Thema informiert oder sich in eine Situation «einbeobachtet». Genaues Beobachten bedeutet, so Herta Müller, zerteilen. Je zerteilter die Beobachtungen sind, desto anspruchsvoller wird es, eine Meinung zu bündeln. Das klingt nach Arbeit. Deshalb sind Vorurteile eine beliebte Abkürzung, sie ersparen Denkarbeit und Zeitaufwand, Zeit ist ja rare Ware. Je eindimensionaler eine Meinung, desto mehr Klarheit und Halt verspricht sie. So muss man wohl auch bei der Darlegung einer geteilten Meinung damit rechnen, dass man überscrollt wird.
Wieso aber nicht mal im Stadium des Zerteilens verweilen, anstatt gestresst alles zu beurteilen und einzuordnen, was uns ja doch überfordert? (Was fordert denn da eigentlich die ganze Zeit?) Sich zur Meinungslosigkeit zu bekennen und sich dennoch nicht dumm fühlen ist eine Herausforderung. (Fordert der Zeitgeist?) Keine Meinung zu haben ist trotzdem weniger dumm, als blindlings mit der Axt um sich zu schlagen.
Daniela Dill, ist 1982 in Liestal geboren und lebt in Basel. Sie studierte Deutsch und Französische Literatur- und Sprachwissenschaften an der Universität Basel.
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