Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: «Geteiltes Leid ist halbes Leid», sagt der Volksmund. Stimmt das?
Andreas Heller: Der Volksmund hat eine alte jüdisch-christliche Tradi-
tion aufgenommen, in der das Leiden zum Menschsein gehört:
Einer trage des anderen Last! Ob das Leiden allerdings in allen
Situationen teilbar ist, das ist heute gerade in der lebens-
endlichen Sorge eine grosse Frage. Die Antwort auf das Leid ist
auch Mitleidenschaft.
Gibt es Wege, diese Mitleidenschaft von Menschen zu fördern?
AH Wir müssen Modelle entwickeln, damit Menschen, die ins professionelle und institutionelle Versorgungssystem geraten, nicht entlassen werden aus der Solidarität des alltäglichen Miteinanders. So sind zum Beispiel in England Ideen entstanden, wie Dörfer und Städte zu compassionate communities, also zu mitfühlenden Gemeinden, werden können. Dort hat man entdeckt, dass etwa 95 Prozent der Aktivitäten am Lebensende von Familien, Freunden, Nachbarinnen und Verwandten erbracht werden und nur 5 Prozent von professionellen Dienstleistern. Die wichtige Aufgabe, die Menschen mit ihren Schicksalen nicht alleine zu lassen, kommt nicht den bezahlten Dienstleistern zu, sondern jederfrau und jedermann.
Müssen wir also die Sorgekultur wieder beleben und kultivieren?
AH In einer hoch individualistischen Gesellschaft ist die Antwort auf die Not von Menschen geprägt von mehr Professionalisierung, Geld und Investitionen. Projekte wie die compassionate communities, die Hospizarbeit oder Palliative Care erinnern daran, dass wir die Fragen zu den wichtigen Dimensionen des Lebens nicht in kapitalistischer Weise beantworten können. Sie legen damit den Finger auf eine offene und öffentliche Wunde: Wo bleibt unsere Fähigkeit und Bereitschaft, Anteil zu nehmen am Schicksal anderer – möglicherweise fremder – Menschen? In der Hospizarbeit wird eine Form gesellschaftlicher Solidarität praktiziert, die zentral durch ehrenamtliches Engagement von Bürgerinnen und Bürgern entsteht. Und damit steht sie exemplarisch dafür, wie Gesellschaften mit Sorge umgehen können und sollten. Als Menschen sind wir angewiesen, verwiesen in Solidarität mit anderen Menschen zu leben, Fremden unsere Gastfreundschaft – hospitalitas – anzubieten. Jeder sterbende Mensch ist ein Fremder.
Das ist auch ein theologisches Programm.
AH Ja! Theologisch kann man sich an Matthäus 25 orientieren, wo Jesus in die Identifikation mit dem Fremden geht: Wer Fremde beherbergt, beherbergt Jesus selber. Es ist eine uralte jüdisch-christliche Linie, dass Gott selbst im fremden Gast begegnet. Der Fremde hat theologisch immer die Möglichkeit der Gottesbegegnung und Offenbarung. Und das muss man existentiell und bis in die Praxis der Kirchgemeinden an sich herankommen lassen.
Woher kommen die Gedanken zur Sorgekultur?
AH Es gibt viele Entwicklungslinien: In jüngster Zeit ist es vor allem die Skepsis über die Professionalisierung von Pflege an Pflegebedürftigen. Ältere Menschen sollen bis zu ihrem Ende dort leben, wo sie gelebt und gearbeitet haben. Wir haben momentan dennoch gegenläufige Entwicklungen, obwohl wir wissen, dass die älter werdenden Babyboomer eine hohe Autonomie schätzen – und alles tun werden, um sich nicht in institutionalisierte Pflegezusammenhänge zu begeben. Wir investieren dennoch Milliarden in den Ausbau des professionalisierten Systems und unterstützen Akteure und Lobbyisten, die am Sterben ganz gut verdienen. Und wir haben es nicht geschafft, das Sterben zu Hause zu ermöglichen, obwohl sich das die meisten Menschen wünschen. Auf diesem Hintergrund sind neue Ideen des Quartierbezugs, der Nachbarschaftshilfe oder des Mehrgenerationenwohnens entstanden. Sie sind von der Erkenntnis getragen, dass die Sterbenden in die Gemeinde oder das Quartier resozialisiert werden müssen. Ein Gegenprogramm zur Professionalisierung des Sterbens.
Wenn ich Ihnen zuhöre, dann hat die Palliative-Care-Idee programmatischen Anspruch – auch für Kinder und andere, die nicht unmittelbar mit dem Sterben konfrontiert sind.
AH Wir müssen dieses tiefere Verständnis von Sorge entwickeln und ausweiten. In der Sorgeethik-Debatte geht es darum, dass die Welt als Ganzes menschlicher und lebenswerter wird. Die Sorge ist die Antriebsfeder oder die politische Vision: Wie kommen wir zu einer Lebensweise, die nicht auf den Rücken und Knochen der Ärmeren und Schwächeren oder der künftigen Generation gelebt wird? Es geht bei der Sorgekultur tatsächlich um den Erhalt der Schöpfung, einem Gesamtlebenszusammenhang. Dies ist ein widerständiges, politisches Programm. Es ist eine Um-Care notwendig. Ich habe grosse Hoffnung in eine Demokratisierung der Sorge. Ich sehe eine grosse Bereitschaft, sorgende Lebensweisen zu üben. Es wird
wichtiger, dass wir die Sorge auch als einen Akt der Widerständig-
keit interpretieren.
Ist diese Sorge-Revolution die einzige Zukunftschance für die Welt?
AH Die Sorgeperspektive ist nicht nur eine Programmatik, sondern es ist auch eine individuelle und kollektive Suchbewegung nach einem Leben, in dem diese Welt noch eine Chance hat. So gesehen steckt in der Sorgekultur – vielleicht erst embryonal und noch zu entwickeln – ein grosses Bild einer anderen Welt-Gesellschaft.
Können Kirchen und Kirchgemeinden beitragen zu dieser Sorge-
Revolution?
AH Die Kirchgemeinden sind eigentlich von ihrem Verständnis her genuin sorgende Gemeinschaften. Sie ist nicht dazu da, ihren eigenen Selbsterhalt ins Zentrum zu stellen, sondern sich in den Dienst der Menschheitsgesellschaft zu stellen. Es entsteht sonst nichts Neues. Das war immer der zentrale Impuls der christlichen Tradition. Zu sehen etwa im Gleichnis des barmherzigen Samariters: Da kann jemand gar nicht anders, als dem, der unter die Räuber gefallen ist, zu helfen. Einfach so. Ohne nach dem Nutzen zu fragen.
Und was könnte ich als Pfarrperson dazu beitragen?
AH Ich kann alles so weitermachen wie bisher. Aber an einem Punkt sollte ich – aus einer Evangeliumsorientierung heraus – ein Projekt oder einen Impuls gestalten, der mit einem diakonischen Thema verknüpft ist: Wo sind bei uns die Menschen, die in Not sind? Welches Thema, das unserer Sorge bedarf, ist bei uns präsent?
Wir machen das zum Beispiel momentan in einer deutschen Stadt mit 90 000 Einwohnern. Dort unterstützen wir Bürgerinnen und Bürger darin, Nachbarn zu sich einzuladen und sogenannte Sorgegespräche zu führen. Es ist unglaublich, was da passiert. Wir spüren einen riesigen Bedarf, Gespräche zu Themen zu führen, die innerlich und existentiell berühren, und Menschen zu finden, die Anteil nehmen und zuhören. Und es ist faszinierend, wie wenig es braucht, entlang dieser Sorge-Themen neue soziale Bezüge aufzubauen und die Initiative von Menschen zu fördern. Das sind sehr elementare Dinge und das könnte man in jeder Kirchgemeinde, in Vierteln und Quartieren organisieren. Wichtig in allem ist, die Sorge von den existentiellen Themen der Menschen her zu entwickeln und nicht von den Profis her, die immer schon zu wissen meinen, was die Menschen bedrückt und welche Lösungen für sie gut wären.
Prof. Dr. Andreas Heller hat den Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an der Universität Graz inne. Ausserdem ist er Mitbegründer der «Letze Hilfe»-Kurse, die auch in der Schweiz angeboten werden. Andreas Heller ist einer der führenden Wissenschaftler für Palliative Care im deutschsprachigen Raum. [tocco-encoded-addr:OTcsMTEwLDEwMCwxMTQsMTAxLDk3LDExNSw0NiwxMDQsMTAxLDEwOCwxMDgsMTAxLDExNCw2NCwxMTcsMTEwLDEwNSw0NSwxMDMsMTE0LDk3LDEyMiw0Niw5NywxMTY=]
Basiskurs Palliative Care für Seelsorgende – Rolle, Kompetenzen und Herausforderungen der Seelsorge in der Palliative Care (12.–16. August 2019)