Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Sie befassen sich mit dem Heiligen und untersuchen es anhand von Transzendenz-Erfahrungen von Menschen. Was ist das Heilige aus Ihrer Sicht?
Hans Joas: Beim Heiligen geht es zunächst einmal nicht um Transzendenz-Erfahrungen, sondern um Erfahrungen von Selbst-Transzendenz. Das ist ein terminologisches Problem, aber die Unterscheidung ist mir ganz wichtig. Denn der Begriff der Selbst-Transzendenz bezieht sich auf einen bestimmten Typus von menschlichen Erfahrungen, in denen Menschen das Gefühl haben, dass sie etwas über die Grenzen ihres Selbst hinausreisst. Es gibt Erfahrungen, zum Beispiel beim Verlieben oder bei einem Gefühl des Einsseins mit der Natur, in denen die Grenzen des Selbst aufbrechen. Dies schliesst das Empfinden ein, dass uns eine Kraft, die jenseits unseres Selbst liegt, ergriffen hat. Das hat als solches noch nichts mit Gott zu tun. Aber alles, was mit dieser Kraft aufgeladen ist, wird von den Menschen als heilig empfunden. Heilig ist ein Begriff, den wir verwenden, um diesem Phänomen gerecht zu werden.
Menschen verwenden das Wort Spiritualität. Ist die Erfahrung von Selbst-Transzendenz dasselbe?
HJ Der Begriff Spiritualität erfuhr seit dem letzten Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts eine subtile Bedeutungsverschiebung. Heute verwenden die meisten Menschen im Deutschen den Begriff Spiritualität als Gegenbegriff zu aller verfassten Religion: «Ich bin zwar nicht religiös, aber spirituell.» Eine solche Formulierung hätte noch im 19. Jahrhundert keinen Sinn gehabt, weil es ganz selbstverständlich war, dass man solche Erfahrungen auf existierende Religionen bezog. Heute wird eher ein Gegensatz gesehen. Mit meinem Begriff des Heiligen beschreibe ich Erfahrungen, die Menschen machen, auch wenn sie keine Religion mitbringen oder sich sogar von jeder verfassten Religion distanzieren. Aber Menschen, die sich als religiös bezeichnen, machen solche Erfahrungen natürlich auch. Überhaupt haben alle Menschen im Prinzip Zugang zu Erfahrungen der Selbst-Transzendenz. Sie beschreiben sie zwar – je nachdem, ob jemand z. B. Christ ist oder Atheist – mit einer jeweils anderen Sprache. Die Erfahrungsgrundlage ist aber bei allen vorhanden. Wenn Menschen jedoch Wert darauf legen, dass sie nicht religiös sind, dann würde ich ihnen nicht sagen wollen, dass sie religiös sind, ohne es zu wissen. Ich verteidige die These, dass das Phänomen der Heiligkeit ein anthropologisches Phänomen ist, während Religiosität eine spezifische Art des Umgangs mit diesen Erfahrungen ist, die nicht für alle Menschen zutrifft.
Die Kirche befasst sich mit solchen Erfahrungen von Menschen. Die Reformierten sind gleichzeitig immer skeptisch, wenn etwas Heiliges neben die Verkündigung des Wortes tritt. Haben sie da ein Problem?
HJ An diesem Punkt muss ich den Begriff der Transzendenz verwenden, im Unterschied zu meinem Begriff der Selbst-Transzendenz. Denn Transzendenz ist nicht einfach ein Begriff, der alle die erwähnten menschlichen Erfahrungen charakterisiert, sondern beinhaltet eine viel anspruchsvollere Vorstellung. Es ist die Vorstellung, dass nichts Irdisches aus sich heraus heilig sei. Nichts Irdisches darf also aus sich heraus – auch wenn es uns zur Verehrung verführt – verehrt werden, es sei denn – und das ist entscheidend –, es steht in einem auch dem Denken zugänglichen Verhältnis zur wirklichen Transzendenz jenseits des Irdischen. Diese Transzendenz wird als Ort des durch und durch Guten gedacht – was über nichts Irdisches behauptet werden darf. Als Katholik würde ich die Reformierten gerade dafür loben, dass sie ein so anspruchsvolles Verständnis von Transzendenz und der Transzendenz Gottes haben. Aber – und damit komme ich zum eigentlichen Kern Ihrer Frage – das Problem ist, ob dieses anspruchsvolle Verständnis der Transzendenz zu einer Abwertung alles Irdischen führt, im Sinne von «nur Gott ist gut und nur Gott darf verehrt werden, und zwar in Form des Wortes, das von Gott kommt», oder ob da nicht mehr Kontinuität gedacht werden sollte zwischen der Transzendenz und dem Irdischen. Es muss dabei bleiben, dass nur dasjenige Irdische als Heiliges verehrt werden darf, das in einem Zusammenhang mit Gott steht. Aber im katholischen Verständnis wird Gott angesprochen als fons omnis sanctitatis (Quell aller Heiligkeit). Und das finde ich insofern eine tiefschürfende Formulierung, als sie bedeuten soll, nichts Irdisches sei aus sich heraus heilig. Aber Gott ist nicht das alleinige Heilige, denn Gott ist Quell alles Heiligen.
Es gibt also Irdisches, das als heilig verehrt werden darf?
HJ Ja, aber nur dann, wenn es in diesem von Gott selber herausgehobenen Verhältnis zu Gott steht. Jetzt will ich aber keinesfalls in konfessionelle Auseinandersetzungen kommen. Ich will nur sagen: Ich teile mit den Reformierten das anspruchsvolle Transzendenzverständnis und es interessiert mich in meiner Arbeit ausserordentlich stark, wie es historisch zu einem solchen anspruchsvollen Transzendenzverständnis kommen konnte und wie es im Christentum immer wieder zurückgewonnen und erneuert werden kann. Und zwar so, dass es nicht ermässigt wird, aber auch keine Abwertung alles Irdischen beinhaltet.
Dann könnte die Kirche diese Resonanz bei Menschen als Potenzial se-
hen und Räume schaffen für die Mitgestaltung von Menschen, wenn sie das wollen?
HJ So ist es! Wenn eine bestimmte, auch rituell praktizierte Christlichkeit nicht mehr vorhanden ist, schneiden Sie sich ohne solches ins eigene Fleisch. Denn das ist die Gefahr Ihrer Form des Christentums, dass Sie die Menschen überfordern und dass eine Idee, die in dieser Form in der Reformationszeit entwickelt wurde und Attraktivität entwickeln konnte, nicht mehr verstanden wird.
Nebst der Säkularisierungsthese, die Sie ablehnen, gibt es die Individualisierungsthese, die besagt, dass die Mehrheit der Menschen – auch der kirchlich Distanzierten oder Konfessionslosen – eine Resonanz für Religiöses zeigen. Entspricht der Grundgedanke der Individualisierungsthese Ihrer Theorie des Heiligen?
HJ Ja, aber meine Theorie ist an zwei Stellen komplexer: Als erstes ist der Begriff der Individualisierung eigentlich zu grob. Robert Bellah hat gezeigt, dass man drei Formen von Individualisierung unterscheiden muss: nutzen-orientierter, moralisch orientierter und selbstverwirklichungs-orientierter Individualismus. Diese drei Formen sind nicht miteinander identisch. Insofern würde mir nicht genügen, von Individualisierungsprozessen zu sprechen, sondern ich müsste unterscheiden dürfen: Wo sind welche Motive im Spiel? Als zweites wäre ich vorsichtig mit der Vorstellung, dass Individualisierung notwendig gegen Institutionsbindung gerichtet ist. Individualisierung kann auch innerhalb von Institutionen stattfinden, wenn die Institutionen zu entsprechenden Rücksichtnahmen zum Beispiel auf Selbstverwirklichungsmotive bereit sind. Wenn sie das nicht sind, dann entwickelt sich eine Gegenbewegung in Kirchen oder aber auch in politischen Parteien.
Die Sozialdemokratie in Deutschland hat es lange Zeit zum Beispiel nicht geschafft, die Selbstverwirklichungsmotive aufzunehmen, weil sie aufgebaut ist auf der Vorstellung, dass die Mitglieder als «Parteisoldaten» Weisungen der Leitung aufnehmen und in die Tat umsetzen. Das ist zum Scheitern verurteilt, wenn die Mitglieder mehr Selbstverwirklichungsmotive haben. Sie wollen keine Anweisungen bekommen. Es gibt politische Parteien – etwa im grünen Bereich des politischen Spektrums – die auf diese Selbstverwirklichungsmotive von vornherein eingestellt waren und deshalb weniger Partizipationsprobleme haben. Die Kirchen haben an dieser Stelle eine Chance. Das glaube ich. Aber natürlich nur, wenn sie sich auf einen solchen Wandel von Motiven einstellen. Da hilft die Individualisierungsthese sicher besser als die Säkularisierungsthese – aber die Sache ist wohl komplexer.
Wie sähe die Chance der Kirchen aus?
HJ Ich sage das jetzt in einer ganz anderen Sprache, die vom protestantischen Theologen Ernst Troeltsch stammt: Das Christentum kann heute nur vital sein, wenn es bei Geschichte und Psychologie anschliesst. Mit Psychologie meint Troeltsch die Anknüpfung an reale Erfahrungen der Selbst-Transzendenz von Menschen. Aber Geschichte ist auch wichtig: Da geht es darum, die biblischen Texte neu zum Sprechen zu bringen, und zwar nicht durch Enthistorisierung, sondern durch Historisierung. Also nicht indem man zu vergessen versucht, dass die Bibel aus einer fernen Vergangenheit stammt und pauschal Aktualität behauptet, sondern indem wir gerade eindringen in den historischen Sinn dieser Texte.
Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Joas geboren 1948, ist Ernst-Troeltsch-Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität in Berlin sowie Professor für Soziologie an der Universität Chicago. Für sein Buch «Die Macht des Heiligen» wurde er mehrfach ausgezeichnet.
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