Von Bernd Berger
Schallendes Gelächter tönt mir entgegen, als ich Bruder Thomas ankündige, dass ich über Ralligen in unserem Magazin zum Thema «heilig» schreiben möchte. Die Christusträger nehmen keine besondere Heiligkeit in Anspruch. Doch sie pflegen mit Ehelosigkeit, Gütergemeinschaft und lebenslanger Verpflichtung einen Lebensstil, der sie von den meisten von uns unterscheidet. Sie wollen «durch gemeinsames Leben Freiraum gewinnen, um andere mitzunehmen auf den Weg zu Gott». Liegt es nicht nahe, ein solches Leben heilig – oder besser vielleicht: geheiligt – zu nennen? Wie werde ich diese Gemeinschaft zölibatär lebender Brüder erleben, die ein gemeinsames Leben in Gütergemeinschaft pflegen?
Bruder Thomas, der mich empfängt, ist als 20-Jähriger mit der Bruderschaft in Kontakt gekommen. Dabei habe er zwei Entdeckungen gemacht: ihm sei während einer Gebetszeit bei der Geschichte vom verlorenen Sohn ganz neu bewusst geworden, dass Gott ein liebender Gott ist, der uns mit offenen Armen empfängt. Diese Erkenntnis sei ihm damals vom Kopf ins Herz gewandert. Zu seinen Hauptaufgaben gehörten Reinigungsarbeiten. Für einen 20-Jährigen nicht das Höchste aller Gefühle. Aber es war von Bedeutung für die Gemeinschaft und trug zum Wohlbefinden der Gäste bei. Die Arbeit machte Sinn – und das war ein erfüllendes Gefühl. Diese Einsicht hat ihn nicht mehr losgelassen – sein Leben so zu führen, dass das eigene Tun sinnvoll ist. Bruder Thomas studierte Evangelische Theologie in Bern, für ihn eine wertvolle Zeit. Nach dem Propädeutikum entschied er sich aber für den Eintritt in die Kommunität. Erst Jahre später setzte er auf Wunsch des neuen Priors das Theologiestudium fort und absolvierte ein Vikariat. Noch heute merkt man Bruder Thomas nicht nur sein theologisches Wissen, sondern auch seine Freude am theologischen Denken und am theologischen Gespräch an. Eine besondere Bedeutung hat für ihn Dietrich Bonhoeffer und vor allem sein Gedanke der Polyphonie – die christliche Gemeinschaft lebt von der Vielstimmigkeit und sie leidet, wo sie in Homophonie erstarrt. Einige Zeit verbrachte er im Haupthaus der Kommunität im deutschen Triefenstein, war dann mehrere Jahre im Auslandseinsatz im Kongo und wurde nach dieser Zeit vom Prior nach Ralligen entsandt, wo er den Gästebetrieb leitet.
Ich spreche Bruder Thomas auf sein Lachen am Telefon an. Für mich sind Menschen und Orte nicht «heilig» im Sinn einer Eigenschaft. Ein Ort, ein Mensch wird geheiligt, durch das, was ihm Gott schenkt. Heiligung ist immer Beziehungsgeschehen, das Wunder, dass sich an einem Ort, in einem Menschen, Gott zeigt, erfahrbar wird. Auch für Bruder Thomas ist die Souveränität Gottes wichtig – nicht wir sind heilig, sondern er heiligt uns. Christophorus, der Namensgeber der Kommunität, sei sich nicht zu schade, durch das Wasser und den Schlamm zu waten und ein Kind zu tragen. Im Sinne von Mt 25: «Was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.» Heiligung bedeute, durchscheinend zu werden für das Licht Gottes. Das ist etwas, das wir nicht von uns aus machen können. Heilig ist für Bruder Thomas, was von Gottes Liebe und Schönheit berührt wird – für mich ein berührender Gedanke, der viel Raum lässt.
Die Christusträger konnten das Gut Ralligen 1976 erwerben. Sie verstehen sich als evangelische Kommunität in ökumenischem Geist und haben täglich drei Gebetszeiten. Zum gemeinsamen Leben gehört übrigens – was ich nicht erwartet hätte – eine Supervision! Für die Brüder steht das gemeinsame Leben im Zentrum, das sich nährt von dem, was Gott schenkt, und das dann zur Quelle für andere werden kann. Thomas verweist auf das Gutshaus, wo die Kapelle sich unter dem Dach befindet, darunter die Zimmer der Brüder und nochmals darunter der Gästebereich. Wie im Gedicht vom römischen Brunnen von C.F. Meyer, wo sich die Wasser von oben nach unten ergiessen und Schale um Schale füllen. Ein schönes Bild für die Kraft und die Bedeutung des geistlichen Lebens und Spiritualität, für die Notwendigkeit des Rückzugs auf sich selbst und auf eine tragende Gemeinschaft – sei es in einer Kommunität oder auch in einem freundschaftlichen Netz, das uns trägt und Kraft gibt. Dass die Brüder dem gemeinsamen Leben einen so hohen Stellenwert einräumen, erinnert mich daran, wie wichtig im Pfarramt die Pflege von persönlichen Beziehungen ist – oder sein sollte – und wie schnell sie auf der Strecke bleiben kann.
Aber braucht es im evangelischen Umfeld Kommunitäten, die nach den Regeln des Mönchtums leben? Haben die Reformatoren nicht gerade die Klöster aufgelöst, das Mönchtum überwunden? Bruder Thomas sieht darin eine Lebensform, die bis in die Anfänge des Christentums zurückreicht. Sie seien wohl Ausdruck einer Sehnsucht nach Gemeinschaft mit Gott und nach einem gemeinsamen Leben. Sie seien nicht eine bessere Lebensform, aber eine für ihn erfüllende Form, mit Christus zu leben. Und es spricht sicher für diese Lebensform, dass Kommunitäten auch heute noch – und vielleicht vermehrt – Orte sind, wo Menschen zur Ruhe kommen und auftanken können, wo sie Begleitung in ihrer Glaubens- und Sinnsuche finden, auch wenn sie selber ihren Glauben nicht in einer kommunitären Form leben möchten.
Bruder Thomas freut sich am gewachsenen Interesse zwischen der Kommunität in Ralligen und den reformierten Landeskirchen. Ralligen sei nur mit der Kommunität zu haben. Man will sich nicht als Tagungshaus vermarkten, sondern Menschen beherbergen, die bewusst diesen Ort suchen und am Leben der Gemeinschaft Anteil nehmen. Ich erzähle von meinem Wunsch, Pfarrerinnen und Pfarrern die Gelegenheit einer Einkehrwoche in der Kommunität von Ralligen zu bieten als Ort zum Aufatmen und Möglichkeit, die eigene Spiritualität zu entdecken, sie für sich zu bewegen und sich darüber mit anderen auszutauschen – im Blick auf die Gemeinde und die Vielfalt der Zugänge zum Glauben. Ein Hauptproblem des Pfarramts sei wohl die Gefahr, die Spiritualität, das geistliche Leben zu verzwecken, meint Bruder Thomas. Er gebraucht das schöne Bild einer Landschaft, bei der das Grundwasser unsichtbar ist. Wo es aber fehlt, wird das bald sichtbar. Die Spiritualität, jenseits aller Zweckdienlichkeit, sei so etwas wie das Grundwasser. Für Bruder Thomas gibt es unendlich viele Arten Gott zu lieben. Ralligen soll ein Ort sein, das zu entdecken und Mut für den eigenen Lebens- und Glaubensweg zu finden.
Was nehme ich mit? Ein Gefühl, willkommen zu sein. Den Eindruck, dass das gemeinsame Leben hier etwas sehr Unspektakuläres und Selbstverständliches ist. Ich erlebe Gelassenheit und eine grosse Offenheit. Es bleibt mir das Bild der Spiritualität als Grundwasser. Für andere da sein, den Menschen dienen – das ist nur möglich, wenn wir aus einer Quelle schöpfen können, die nicht wir selber sind.
Pfr. Bernd Berger ist Leiter der Pfarrweiterbildung pwb in Bern bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn.
Er ist ausgebildeter Supervisor und Coach. Während 25 Jahren warer als Gemeindepfarrerin Bern, Oberbalm und Thun-Strättligen tätig. [tocco-encoded-addr:OTgsMTAxLDExNCwxMTAsMTAwLDQ2LDk4LDEwMSwxMTQsMTAzLDEwMSwxMTQsNjQsMTE0LDEwMSwxMDIsOTgsMTAxLDEwNiwxMTcsMTE1LDExMSw0Niw5OSwxMDQ=]