Von Ralph Kunz
Als Erstklässler durfte ich mit einem sogenannten PROFAX rechnen lernen. Das Teil aus Hartplastik war ein brutaler Fehlerentdecker. Man musste mit dem spitzen Bleistift ein Loch in eine gestanzte Schiebkarte rammen. Pech, wenn man die falsche Zahl erwischt! Der Fehler wurde automatisch registriert und danach geahndet. Ich hatte meine Lektion fürs Leben. Erstens mindern Fehler, die man sieht, den Erfolg, und zweitens ist Trial and Error nicht immer eine ratsame Strategie. Aber ich habe vielleicht auch etwas verlernt. Dass man manchmal zum Ziel kommt, wenn man Fehler in Kauf nimmt oder bereit ist, etwas zu riskieren, und vielleicht sogar Lust bekommt, Spielregeln zu hinterfragen. Ist es nicht so? Wer weiterkommen will, meide Fehler.
Gott sei Dank ist das nicht die ganze Wahrheit. Das rein rechnerisch Richtige hat sicher seine Berechtigung, aber es verpasst eine grundlegende existenzielle Erfahrung. Wenn es um unser Woher und Wohin geht oder umso bedeutsame Dinge wie die Frage, was unsere Bestimmung ist, müssen wir ausprobieren und kommen zwangsläufig auch einmal auf eine falsche Fährte. Was es dazu braucht? Der antike Lehrer würde auf eine der vier Kardinaltugenden verweisen. Für Aristoteles gehört neben der Gerechtigkeit, der Besonnenheit und der Weisheit auch die Tapferkeit zur reifen Person. Ein anderes Wort dafür ist Mut. Und den kann man nur beweisen, wenn man das Risiko des Versagens eingeht. Ob ein Mensch den Mut findet, etwas zu wagen, ist in zweifacher Weise bedingt: Erstens ist der Mut oder die Tapferkeit immer im Verband der anderen Tugenden zu sehen und nicht mit dem Leichtsinn zu verwechseln. Zweitens spielt – wie mein Schulbeispiel zeigt – die Umwelt eine entscheidende Rolle. Belohnt sie das Wagnis?
Hier kommt Theologie als Rede von Gott ins Spiel. Die Auseinandersetzung mit der Lehre und dem Leben Jesu lenkt die Aufmerksamkeit auf das Wagnis des Glaubens. Einer der schönsten Sprüche von Martin Luther – in einem Brief an Melanchthon vom 1. August 1521 überliefert – bringt die Regel auf den Punkt: Pecca fortiter, sed fortius fide et gaude in Christo! Frei übersetzt: «Gib die Illusion auf, es sei möglich, ein schuldloses Leben zu führen. Vergiss die untergründige Lochkarte, die alles weiss und nur eine einzige richtige Antwort akzeptiert. Vertraue umso kräftiger Christus, deinem Leitstern.»
Was Luther seinem Freund rät, hört sich nach sola fide an. Er sagte es viel besser, seelsorglicher und riskanter. Das Evangelium von der Gnade Gottes ist das Ende der gesetzlichen Gleichung. Es ist der Anfang der Freiheit, von der schon das Alte Testament erzählt. Zum Beispiel in den Geschichten von Jakob, der sich hin und wieder verrechnete und dennoch Gottes Träumer, Streiter und Versöhner wurde.
Wie schafft man den Sprung von dieser narrativ vermittelten Glaubensweisheit in die Berufspraxis? Der PROFAX-traumatisierte Professor muss den Reflex bekämpfen, sich auf tausend Weisen abzusichern, wenn er den Berufsleuten zuruft: «Tut um Gottes willen etwas Tapferes.» Wer Ohren hat zu hören, hört jetzt auch den Zwingli. Wir rühren tatsächlich an etwas, das die ganze Reformation als kühne Bewegung auszeichnet. Ich sage nicht sola fide. Denn das könnte so missverstanden werden, dass man nur glauben muss und sich nicht ans Werk machen soll. Das wäre die falsche Gleichung. Der (oftmals nicht zitierte) zweite Teil des Lutherspruchs bestimmt den Mut des Glaubens mit einer Ungleichung. «Mach vorwärts, aber vertraue umso kräftiger!» Und jetzt bitte keine Trugschlüsse: Es geht nicht um religiöses Bungee-Jumping oder kopfloses Wursteln. Man kann auch mit einem seriösen Businessplan scheitern. Und es ist möglich, dass man um Gottes Willen etwas wagt und trotzdem keinen Erfolg hat. Zwingli dient als Schulbeispiel. Letztlich geht es um das Vertrauen, also darum, evangelische Freiheit und theologische Reflexion im Beruf umzusetzen. Wer beherzt ist, riskiert auch einmal eine Bauchlandung. Die Frage ist, wie andere darauf reagieren.
In Organisationen, die gezwungen sind, innovativ zu sein, wird der Mut zum Experiment gefördert. Es ist schlicht eine Frage des Überlebens. Neue Produkte müssen entwickelt und neue Kunden angesprochen werden. Das geht nicht ohne Experiment. Eine Firma, die immer dasselbe macht, würde den Unternehmergeist bremsen und irgendwann vom Markt gefegt. Wie schafft man den Sprung von der Weltweisheit zum Glauben?
Die Kirche ist eine Institution, die sich einer kühnen Bewegung verdankt, die Mission heisst. Bei allen Unähnlichkeiten zu einer weltlichen Organisation ist eine Ähnlichkeit nicht zu übersehen: Die Kommunikation des Evangeliums ist immer mit dem Risiko der Übersetzung verbunden. Die Kirche ist gewachsen, weil Menschen den Mut aufbrachten, für ihren Glauben einzustehen. Sie wagten es, das Überlieferte neu zu interpretieren, obwohl sie mit Widerstand rechnen mussten. Die Kontextualisierungsversuche waren nicht immer erfolgreich. Paulus musste einiges einstecken bei seinen Jerusalemer Brüdern und auf dem Areopag – und lernte aus beiden Erfahrungen! Er hatte den Mut, den alten Griechen etwas Neues zu sagen und das Evangelium in überraschend frischer Weise zu präsentieren.
Ich meine, eine gesunde Fehlerkultur in der Kirche fragt immer auch danach, ob das, was versucht wird, gerecht im Sinne der Reich-Gottes-Botschaft ist. Ob es weise und ob es besonnen ist. Ob die Übersetzung stimmt. Und wenn man die christliche Erweiterung dazu nimmt: ob die Liebe, der Glaube und die Hoffnung gefördert wird. Das Erprobte soll geprüft, aber der Geist nicht gedämpft werden. Im Gegenteil! Wir brauchen in unserer Kirche Erprobungsräume, Experimentierküchen und Feldlabore für neue Gemeindegestalten. Mission braucht beides: Weggemeinschaften, die sich nicht an das Vorgelochte halten, und eine Theologie, die an den Leitstern erinnert.
Prof. Dr. Ralph Kunz hat seit 2004 eine Professur für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Liturgik und Poimenik an der Theolo-
gischen Fakultät der Universität Zürich inne. Zudem ist er Mitglied der Leitung des Zentrum für Kirchenentwicklung ZKE
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