Von Beate Wolf
Ach du lieber Himmel! Die TV-Serie «Die Lindenstrasse» wird eingestellt! Die Empörung ist gross: Das sei so eine wichtige Serie gewesen, ganze Generationen seien damit gross geworden, die sei doch noch hochaktuell.
Die Serie wird aber kaum noch geschaut.
Solche Proteste kennen wir aus Presbyteriums-Sitzungen, wenn etwas in der Gemeinde verändert werden soll. Keine Bibelwoche mehr? Das geht ja gar nicht! Die wichtigste Veranstaltung der Gemeinde! Unsere Kernaufgabe! Dass kaum jemand mehr an der Bibelwoche teilnimmt, zählt nicht: «Dann müssen Sie eben mehr Werbung machen, auch mal die Jüngeren persönlich ansprechen.» Wir sollen also einen Bedarf schaffen, der gar nicht da ist, nur damit sich nichts ändert?
In unseren Kirchengemeinden empfinden inzwischen viele diese Strukturen als ein Hamsterrad. Viele können oder wollen nicht mehr so weitermachen. Immer mehr Gemeinden wagen inzwischen das Loslassen. Die Kapellen-Gemeinde Heidelberg, Waren (Müritz), Florstadt u.a. haben es mit einem Sabbatjahr versucht. Mehr oder weniger radikal haben sie für ein Jahr ihr Angebot deutlich reduziert. Die Auswertungen waren durchweg positiv. Alle waren erleichtert, weil sie endlich wieder mehr Zeit hatten, etwas vernünftig vorzubereiten und durchzuführen.
Ich habe viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende befragt, was sie sich eigentlich wünschen. Sie sagten fast immer: mehr Zeit für die Menschen! Weniger Verwaltung, weniger Vorbereitung von besonderen Ereignissen! «Ich möchte mal wieder eine ganz normale Woche haben!», seufzten manche.
Dann habe ich auch Gemeindeglieder gefragt, was die sich eigentlich wünschen von der Kirche. Ihre Antwort: mehr persönliche Besuche! Für Gemeindeabende hätten die meisten kaum Zeit, aber es wäre schön
gewesen, wenn der Pfarrer nach dem Tod von Oma mal bei Opa vorbeigeschaut hätte.
Genau das ist nämlich unsere Stärke, sogar ein Privileg, um das uns Leute aus der Politik und Wirtschaft beneiden: Wir dürfen, ja wir sollen die Leute besuchen! Während Verkäufern, Missionarinnen und Wahlkämpfern die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, wünscht man sich den Besuch der Pfarrerin.
Wenn der Pfarrer klingelt, wird er gerne eingelassen. Vor allem, wenn man ihn schont kennt. Man lässt ihn in die Wohnung, man erzählt ihm Privates ohne Angst. Wem, ausser vielleicht der Ärztin, wird noch so vertraut? Trotz Mitgliederschwund, trotz Skandalen und Säkularisierung: Dass ich als Pfarrerin nicht willkommen war, ist mir nur sehr selten widerfahren. Welcher Politiker oder welche Firma, die ihr Produkt verkaufen möchte, hat so eine Chance? Die Leute wollen, dass wir sie besuchen. Sie wollen nicht an aufwendig vorbereiteten Veranstaltungen teilnehmen, zu denen sie oft weder Zeit noch Lust haben. Und sie sollen doch nicht aus Mitleid kommen, damit der Pfarrer nicht alleine ist, wo er sich doch solche Mühe gegeben hat.
Mein Vorschlag: Übergeben Sie als Pfarrerin oder Pfarrer die Veranstaltungen und Gemeindekreise denen, die wirklich Lust darauf haben. Manche werden eingehen, manche werden aufblühen. Ich habe das mit dem Umweltkreis und dem Filmclub gemacht. Nach wenigen Monaten gab es sie nicht mehr, weil niemand wirklich Lust darauf hatte. Der Weihnachtschor dagegen wächst, weil Herbert ihn leitet und alle mitreisst.
Machen Sie selber nur das, was Ihnen wirklich Spass macht und was Sie gut können! Nur dann stecken Sie andere an mit Ihrer Begeisterung.
Und machen Sie in der frei gewordenen Zeit mehr Hausbesuche.
Selbst die eher kirchendistanzierten Angehörigen freuten sich, als ich ihre Oma wieder im Krankenhaus besuchen konnte. Einige, die schon auf dem Weg zum Kirchenaustritt waren, haben es sich deswegen anders überlegt. Andere blieben wegen der schönen Trauung der Enkelin.
Das ist nämlich unsere zweite Stärke: Wir wissen, wie man die grossen Ereignisse im Leben der Menschen feierlich gestaltet. Liebevoll gestaltete Kasualien sind ein Alleinstellungsmerkmal der Kirche! Auch dafür brauchen wir Zeit.
Immer, wenn wir uns unmittelbar den Menschen zuwenden, sind wir stark. Dann erfüllen wir eine tiefe Sehnsucht unserer Gesellschaft. Die Freizeit der Menschen dagegen können andere professioneller und besser gestalten als wir. Das können wir getrost loslassen. Wir können auch ohne Verlust aufhören, überall unseren (unqualifizierten) Senf dazuzugeben. Stattdessen können wir von Christi Liebe, der Gnade und der Vergebung reden. Uns glaubt man das! Und die Gesellschaft braucht das!
Wir haben das kostbarste Gut der heutigen Zeit: persönliches Vertrauen.
Wo Menschen zusammenkommen, das Wort verkündet und die Sakramente verwaltet werden, ist Kirche, sagte Melanchthon 1530 in der Confessio Augustana. Der Mann hat recht.
Das ist Kirche! Alles andere kann weg!
Beate Wolf ist Pfarrerin im Pfarrsprengel Menz (oberes Havelland, Deutschland). Sie teilt sich die Pfarrstelle mit ihrem Mann Mathias Wolf.Zusätzlich haben die beiden noch je eine halbe Stelle als Gefängnisseelsorgerin und als Öffentlichkeitsbeauftragter. In den 15 Dörfern des Pfarrsprengels leben 2400 Personen, 580 sind evangelisch, der grosse Teil ist konfessionslos.
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