Von Juliane Hartmann
Anne-Marie Helbling: Nach dem Vikariat war ich drei Jahre im Pfarramt – nach dieser Zeit habe ich angefangen Improvisationstheater zu spielen, meistens einmal in der Woche, manchmal auch öfter. Dabei habe ich viel gelernt und erlebt. Das Theater hat meine Lebenshaltung grundlegend verändert: heute wäre ich mutiger im Pfarramt. Ich hatte mich zur Perfektionistin entwickelt. Ich sagte mir: wenn schon Pfarrerin, dann eine gute. So habe ich mich behindert und wurde richtig mutlos. Als ich im Theater das erste Mal auf einer leeren Bühne stand, habe ich Mut gebraucht, immer wieder auf der leeren Bühne habe ich Mut gelernt. Nichts weiss man. Schon zum Anfangen braucht man allen Mut. Was sind eigentlich die Voraussetzungen, dass ich nun mutig sein kann?
Der grundlegende Punkt: Ich darf scheitern. Das habe ich mir im Pfarramt nie zugestanden, obwohl ich natürlich auch gescheitert bin. Auf der Bühne gilt die Erlaubnis: einfach loslegen aus nichts, volles Risiko – kann voll in die Hose gehen. Scheitern gehört dazu, ständig. Wie gehe ich damit um? Wer scheitert schon gern? Ich habe gelernt: Scheitern ist ok – danach geht es einfach weiter. Aus dem Scherbenhaufen kann Neues entstehen. Mit dieser Haltung hätte ich Predigten anders vorbereitet. Weil die Rückmeldungen positiv waren, durfte ich sicher nicht schlechter werden. Lange habe ich an Sätzen geschliffen. Vielleicht hätte ich riskiert, einmal nicht alles bis ins Letzte auszuformulieren, hätte mich vom Moment leiten lassen? Was wäre denn das Schlimmste, was passieren könnte? In unserer Kultur – nicht nur in der Kirchgemeinde – ist es nicht erwünscht, Fehler zu machen und das können wir auch nicht ändern. Doch der erste Schritt ist, sich das selber zu erlauben, sich zu sagen: Ich riskiere das!
Der zweite Punkt ist Vertrauen. Wenn ich auf der Bühne stehe, bleibt mir nichts anderes, als zu vertrauen. Das Einzige, was ich habe, ist mein Partner auf der Bühne. In Seelsorgesituationen habe ich als junge Pfarrerin manchmal gedacht, was mache ich nur, was kann ich der Person mitgeben? Dabei ist ja mein Gesprächspartner schon da – und was da ist, reicht. Das Vertrauen in den Partner ist auch bei Schülern ein Thema. Meine Aufgabe – bin ich heute überzeugt – ist in erster Linie, mich ihnen zuzuwenden und zu schauen, was bei ihnen da ist. Dazu gehört auch das Vertrauen in die Intuition, auf der Bühne hat man nicht viel mehr als das. Das würde ich mitnehmen in den Unterricht: einen Plan haben – und mich dann auf meine Intuition verlassen. Denn es geht auf jeden Fall weiter, egal was passiert. Im Pfarramt hatte ich das Vertrauen in Gott, das ergänzt die Improhaltung – ein Boden der noch viel tiefer drunter liegt.
Das Dritte, was mir den Mut ermöglicht, ist der Grundsatz: «be average». Es reicht, wenn du Durchschnitt bist. Das kann auch heikle Seiten haben. Doch für mich nimmt es Druck weg. Es reicht. Es muss nicht das
Beste von allem sein. Wer auf der Improbühne der Beste sein will, ist es sicher nicht.
Eine nächste Ermutigung ist die Haltung: Es ist alles offen und möglich. In einer Theaterszene kann sich alles ereignen. Als Pfarrerin fühlte ich mich darin gefangen, Erwartungen erfüllen zu müssen. Das hat mir manchmal fast die Luft abgeschnürt. Oft waren das vermeintliche, unausgesprochene Erwartungen, Bilder, die ich selber projiziert habe. Auf der Bühne weiss ich nicht, was der andere will – so gibt es nichts, dem ich entsprechen müsste. Das gibt mir Mut, ich selber zu sein und auch für eine abweichende Meinung einzustehen. Auf der Bühne gilt: wenn etwas nicht ausgesprochen ist, ist es nicht. Also auch umgekehrt: wenn ich etwas will, muss ich es sagen. Ich kann nicht erwarten, dass andere das einfach wissen.
Wenn alles offen ist, befreit mich das zum Entscheiden. Im Pfarramt konnte ich oft erst entscheiden, wenn ich alle möglichen Optionen ausgelegt hatte. Das hat ungeheuer viel Zeit und Energie gebraucht. Im Improtheater gilt das Prinzip: «be obvious» – Nimm das Naheliegende. Also probiere ich es aus. Wenn ich scheitere, muss ich es ja nicht wieder machen. So habe ich auch Mut etwas zu wagen, wenn andere skeptisch sind und ich sie damit vielleicht enttäusche. Andererseits: Wenn mein Partner auf der Bühne spielt, dann mache ich mit, auch wenn ich selber vielleicht eine andere Idee hatte. Das ist der Mut, meine eigene Idee fallen zu lassen und zu schauen, was gemeinsam entsteht.
Das Schöne an der Improwelt ist: man schafft nicht für die Ewigkeit. Es ist der Moment, der zählt. Das macht es leichter, sich für einen Weg zu entscheiden – und hilft auch, eine Szene zu beenden. Dazu gehört das Risiko, dass es vielleicht noch hätte besser werden können. Wenn es wichtig ist, kommt es wieder. So wie wir nicht für die Ewigkeit schaffen, beenden wir auch nicht für die Ewigkeit. Oft nehmen wir uns zu wichtig und auch unser Tun zu ernst. Dann wird es verkrampft und Freude, Lockerheit und Leidenschaft gehen verloren. Wenn man sich selber nicht so wichtig nimmt, kann man leichter scheitern, man kann besser beenden.
Der letzte Punkt ist eine der höchsten Künste im Improtheater und nicht nur dort. Er macht einen guten zu einem sehr guten Schauspieler: das Prinzip «let your partner shine». Zugleich ist das eine Kulturfrage, das ist nur etwas, das man zusammen machen kann. Wenn ich den anderen leuchten lasse, dann öffnen sich Räume. Weil, wenn ich dann scheitere, dann fangen mich meine Mitspieler, meine Umgebung, meine Gemeinde auf. Denn sie meinen es gut mit mir.
Dazu gehört auch die Feedbackkultur in der Improwelt: Nach jeder Show freut man sich zusammen an den Highlights. Man tauscht sich aus, was man lernen konnte, was man mitnimmt und wo man enttäuscht wurde. Das ist nicht für die Ewigkeit. Später stehen wir wieder zusammen auf der Bühne. Ich würde mir wünschen, dass uns das auch sonst im Leben gelingen könnte. Wir alle – nicht nur im Pfarramt – sind oft sehr mit dem Eigenen beschäftigt, wie wir es gut machen, was wir können und leisten. Wir könnten stattdessen schauen: wie können wir unseren Partner unterstützen, ein Team sein? Diese Haltung hat überall grossen Einfluss.
Ja, im Pfarramt wäre Platz für Mut.
Anne-Marie Helbling ist
Pfarrerin, Projektbeauftragte Quest und Mutter zweier Kinder. Und sie ist leidenschaftliche Improschauspielerin. In diesem Beitrag teilt Anne-Marie Helbling in einem «Selbstgespräch» ihre Gedanken zu Mut, Improvisation und Pfarramt und wie das Theater ihre Lebenshaltung verändert hat. Juliane Hartmann hat zugehört und mitgeschrieben.
WeA Improvisation im Pfarralltag – Vielfältige Aufgaben, wenig Zeit, unvorhersehbare Situationen: Improvisieren kann man lernen. (26.–29.3. und 4.6.2019)