Die Redaktion Bildungkirche hat einen Pfarrer, einen Kirchgemeindepräsidenten und einen Sozialdiakon eingeladen, darüber zu schreiben, wo ihnen in ihrem Arbeitsalltag autoritäres Verhalten begegnet oder wo sie gar selber autoritär handeln. Aus ihren Perspektiven sind drei ganz unterschiedliche Geschichten entstanden.
Die Autoren schreiben anonym
Stürmisch betritt ein 60-jähriger Mann mein Büro. Er baut sich vor meinem Bürotisch auf und redet gleich auf mich ein. Da er mich schon mehrere Male besuchte, kann ich die Situation nehmen, wie sie ist. In gebrochenem Deutsch erzählt er mir, dass er Arbeit suche. Ob ich ihm welche habe, fragt er mich? Leider kann ich da nicht weiterhelfen. Er lässt nicht locker und bittet mich um finanzielle Unterstützung. Ich biete ihm einen 20-Franken-Migrosgutschein an, die ich für solche Fälle bereit habe. Er schaut mich drohend an und erklärt mir, dass er nicht wegen 20 Franken zu mir gereist sei. Ich wiederum erkläre ihm, dass ich ihm in diesem Jahr schon mehrere Male geholfen habe, und das Budget der Kirchgemeinde für Nothilfe begrenzt ist. Da ich aus den letzten Treffen weiss, dass eine Diskussion zwecklos ist, gebe ich ihm den Gutschein und bitte ihn zu gehen. Wiederwillig nimmt er diesen entgegen und lamentiert erneut, dass er einen grösseren Betrag erwarte. So geht das Gespräch hin und her, bis ich meine ganze Autorität einsetze und ihn bestimmt und mit lau-
ter Stimme aus meinem Büro weise. Schliesslich verlässt er mein Büro. Zum Abschied darf ich mir noch ein paar unschöne Worte zu meiner
Person anhören.
Passen autoritäres Handeln und mein diakonischer Auftrag zusammen? Gemäss dem Vorbild des barmherzigen Samariters im Neuen Testament müsste ich doch meinen Nächsten bedingungslos lieben und ihn in seiner Not unterstützen. Was ich auch gerne tun würde. Doch die mir mögliche Nothilfe ist an Vorgaben gebunden und kann nur funktionieren, wenn Hilfesuchende in ihren Ansprüchen bescheiden bleiben. Speziell dann, wenn für sie nur finanzielle Hilfe in Frage kommt. Mein Auftrag lässt mir einen gewissen Freiraum, um Menschen in Not spontan zu helfen. Doch die Erfahrung zeigt, dass sie sich schnell an die Hilfe gewöhnen und sie regelmässig vorbeikommen, um die finanzielle Unterstützung abzuholen. So bleibt mir keine andere Wahl, als diesen Menschen auf autoritäre Art und trotzdem mit Achtung zu erklären, wo die Grenzen meiner Hilfestellung liegen.
Mit den sinkenden Mitgliederzahlen büsst die reformierte Kirche ihre Leit- und Orientierungsfunktion in Fragen der Lebensführung immer mehr ein. Pfarrpersonen verlieren an Einfluss. In solchen Zeiten abnehmender Bedeutung entsteht die Sehnsucht nach alter Grösse, nach Führung und Orientierung. Damit verbunden ist die Gefahr, dass vermehrt Menschen auf den Plan treten, die sich durch ein starkes Sendungsbewusstsein auszeichnen und nur ihre Lebensentwürfe predigen. Mit einem solch ichbezogenen und rückwärtsgewandten Verhaltensmuster lässt sich für die Kirche keine Zukunft bauen.
In unserer Kirchgemeinde haben wir uns schon vor Jahren das Ziel gesetzt, vermehrt nach den Menschen zu fragen, ihnen zu begegnen und sie zu verstehen. Unsere Arbeit basiert auf einem Leitbild, welches alle Mitarbeitenden und den Kirchgemeinderat als Team in den Vordergrund stellt und nicht die einzelne Person. Wir erwarten von allen Exponentinnen und Exponenten unserer Kirchgemeinde, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, nicht belehrend, sondern helfend und dienend. Pfarrpersonen sollen nicht predigen «wo Gott hockt», sondern ihre Arbeit vor dem Hintergrund einer immer fühlbaren Liebe verrichten. Eine solche Autorität, die auf Nachsicht und Respekt beruht, wird von vielen Menschen als positiv empfunden. Sie wird als Zeichen persönlicher Bescheidenheit und intellektueller Überlegenheit interpretiert und hilft mit, dass Pfarrpersonen auch in einer säkularisierten Gesellschaft weiterhin Gehör finden. Das zurückhaltende, respektvoll-engagierte Auftreten unserer Pfarrpersonen, in Verbindung mit einem umsichtigen Kirchgemeinderat und aktiven Mitarbeitenden, trägt dazu bei, dass zwischen der politischen Gemeinde und der Kirchgemeinde intensiv und konstruktiv zusammengearbeitet wird, zum Wohl aller Menschen in der Gemeinde, unabhängig von ihrer Konfessions- oder Religionszugehörigkeit.
Vorschussvertrauen gegenüber der Pfarrperson in seelsorgerlichen Situationen erlebe ich bis heute als eine grosse Chance und Zuerkennung von Autorität. In anderen Bereichen des Pfarramts wird der Pfarrperson nicht mehr automatisch Autorität zugesprochen. Früher war «der Pfarrer» per se Autoritätsperson. Heute wird von ihm authentischer Glaube und Nahbarkeit gefordert, er soll glauben und leben, was er predigt. Autorität wird mir in jenen Bereichen zugestanden, in den ich meine theologischen Aussagen mit persönlicher Betroffenheit und praktischen Erfahrungen füllen kann.
Die Theologie lehrt mich allerdings, dass Gottes Wort mit Dynamis und Exousia weitergegeben werden soll, mit göttlicher Kraft und Vollmacht. Und wenn ich das im Studium richtig verstanden habe, wird diese Autorität «von oben» zugesprochen als Gabe, Bevollmächtigung und nicht als Besitz. Eine bevollmächtigte Predigt kann daher das pure Gegenteil einer machtvollen Predigt sein: Die eine ist sich der göttlichen Autorität bewusst, die andere nimmt diese menschlich in Anspruch. Dies bleibt eine Gratwanderung und die Zuhörenden werden unterschiedlich empfinden, ob sie eine Predigt in die Nähe von Gottes Vollmacht führt oder ob sie sich von der Machtfülle der Pfarrperson erschlagen fühlen. Die hohe Kunst pfarramtlicher Tätigkeit sehe ich darin, wie Johannes der Täufer auf Jesus hinweist: «Jener muss grösser werden, ich aber geringer.»
Und ganz praktisch: Wenn ich möchte, dass ein Beschluss in der Kirchenbehörde durchkommt, ist es von Vorteil, mit der Hälfte der Mitglieder vorher das persönliche Gespräch zu suchen. Sie sind sich ihrer Autorität bewusst und die äussert sich gerne im Nein sagen, wenn sie etwas nicht kennen. Soll in einem Team mein Vorschlag angenommen werden, muss ich mich gründlich vorbereiten, Pro und Kontra offenlegen und ein faires Gespräch führen. Autoritäres Auftreten erzeugt Abwehrreflexe bei mir und anderen, einer Autorität mit Kompetenz, Weisheit und Weitsicht vertraue ich mich gerne an.
Drei Autoren schreiben anonym: ein Pfarrer, ein Kirchgemeindepräsident und ein Sozialdiakon – alle aus unterschiedlichen Landeskirchen.
Führen und Leiten im Pfarramt – Theologische und sozialwissenschaftliche Grundlagen, Werkzeuge, Übungen
(26.–28. August; Do, 14. November 2019, Follow-up-Tag)