Von Sieglinde Geisel
Der Mensch wird mit der Fähigkeit geboren, sich zu unterwerfen. Die Eltern sind für das Kleinkind die absolute Autorität: Von ihrer Fürsorge hängt sein Überleben ab, daher kann es ihre Äusserungen nicht hinterfragen. Die Evolution hat es so eingerichtet, dass ein Kleinkind seinen Eltern alles glaubt.
Der Austritt aus dieser autoritären Bindung ist ein Reifungsprozess: Mit zunehmendem Alter entwickelt das Kind ein eigenständiges Ich. Es lernt, Fragen zu stellen und Hypothesen zu entwickeln, die es an der Wirklichkeit überprüft. Spätestens in der Pubertät werden die Eltern abgelöst von Autoritäten, die sich die Jugendlichen selbst suchen. Vorbilder brauchen wir für unser inneres Wachstum zeitlebens, wir lernen ja von anderen. Wie der Psychologe Erich Fromm erkannte, gibt es jedoch zwei Formen von Autoritäten. Fromm, der seine Studien zum autoritären Verhalten in den 1930er-Jahren am Frankfurter Institut für Sozialforschung begann, unterscheidet die rationale von der irrationalen Autorität. Die rationale Autorität wirkt aufklärerisch. «Die rationale Autorität ist nicht begründet auf der Ausschaltung meiner Vernunft, sondern setzt sie vielmehr voraus», schreibt Fromm. Die rationale Autorität beruht auf Kompetenz und hat letztlich, wie jeder gute Lehrer, ihre eigene Abschaffung zum Ziel. Die irrationale Autorität dagegen gründet auf Unterwerfung und der Aufgabe des kritischen Denkens. Sie ist, laut Fromm, Ausdruck der «Furcht vor der Freiheit» und ein Merkmal einer unreifen Persönlichkeit. Da es der irrationalen Autorität nicht um aufklärerische Werte geht, braucht sie sich um Fakten nicht zu kümmern. Auf offensichtliche Fake News reagieren ihre Anhänger mit dem Bekenntnis: credo quia absurdum est.
Die frühe Erforschung des Autoritären – nebst Erich Fromm wären hier etwa die berühmten «Studien zum autoritären Charakter» von Theodor W. Adorno und anderen zu nennen – war eine Reaktion auf den Faschismus. In der psychoanalytisch geprägten Soziologie der Vierzigerjahre ging man von der Existenz eines «autoritären Charakters» aus: Wer in seiner Kindheit einer autoritären Erziehung unterworfen ist, so die These, entwickelt als Erwachsener selbst eine Neigung zum Autoritären. Diese Sicht gilt heute als überholt, die aktuelle Forschung spricht von einem «autoritären Dispositiv». Die Voraussetzung für die Aktivierung dieses Dispositivs, das in jedem Menschen angelegt ist, besteht in einer Schwächung des Ichs, etwa durch Angst oder Verunsicherung.
Dass sich Menschen einer autoritären Macht zuwenden, hat jedoch nicht nur mit dem Bedürfnis nach Sicherheit zu tun. Autoritäre Bewegungen vermitteln ihren Anhängern auch ein Gefühl der Grösse und der Macht, und sie sind entsprechend rücksichtslos gegenüber all jenen, die nicht zur eigenen Gruppe gehören. Weil ihre Anhänger die Tabuverletzung stellvertretend geniessen, sind autoritäre Führer erstaunlich immun gegen Skandale. Es geht um Hegemonie: Autoritäre Bewegungen fühlen sich nicht mehr an zivilisierte Umgangsformen gebunden, sie wollen demonstrieren, dass sie jetzt die Regeln des Zusammenlebens bestimmen.
Ist das autoritäre Dispositiv einmal aktiviert, lässt es sich nur schwer wieder in den blossen Bereitschaftsmodus zurückversetzen. Wie Kleinkinder befinden sich die Anhänger autoritärer Führerfiguren in einem hypnoseähnlichen Bewusstseinszustand. Oft haben die neurechten Bewegungen etwas Sektenhaftes, wie man etwa dem Bericht «Inside AfD» (2018) der AfD-Aussteigerin Franziska Schreiber entnehmen kann. Nicht von ungefähr ist der Buchtitel «Mit Rechten reden» zu einem geflügelten Wort geworden: Darin spiegelt sich die frustrierende Erfahrung, dass man dem autoritären Denken mit Argumenten nicht beikommt. Mit Menschen unter Hypnose kann man nicht diskutieren, so ist es bei den neuen Rechten wie auch bei Sektenmitgliedern schwierig, sie überhaupt zu erreichen.
Warum verabschieden sich so viele Menschen von der Ratio? Die offensichtliche Abkehr von der Vernunft hat emotionale Gründe. So setzen die autoritären Bewegungen zwar einerseits Normalitäten ausser Kraft, doch andererseits reagieren sie auch selbst auf die Verschiebung der Normen in einer Gesellschaft. Die Veränderungen der multikulturellen, globalisierten Gesellschaft betreffen alle Lebensbereiche. Seit Frauen an der Macht teilhaben, sehen sich die ehemals unangefochtenen Patriarchen unversehens in der Rolle des «anderen» Geschlechts. Das Christentum ist in einer multikulturellen Gesellschaft nicht mehr die Religion schlechthin, sondern nur noch eine Religion unter anderen. Und durch die Schwulen- und LGBTQ-Bewegung (Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender) wiederum ist die traditionelle Kleinfamilie als selbstverständliche Norm unter Druck geraten. Die sprichwörtlich gewordenen weissen Männer sind zwar hinsichtlich Einkommen und Status immer noch privilegiert, doch dies entspricht nicht mehr ihrer Selbstwahrnehmung: Viele von ihnen fühlen sich, als hätten sie nichts mehr zu sagen.
Die Hinwendung zum Autoritären ist Ausdruck des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die die Normen bestimmt. Dieses Zugehörigkeitsgefühl wird von der Gewissheit, dass man von Menschen, die eine andere Meinung haben, abgelehnt wird, nur verstärkt, die Formel «man wird doch wohl noch sagen dürfen», dient als Schutzschild. Die Angst, nicht mehr dazuzugehören und den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren, ist eine existenzielle Bedrohung, die ungeahnte Kräfte freisetzt, auf beiden Seiten. Autoritäre Bewegungen dämonisieren, was sie fürchten, und umgekehrt werden sie von der Gegenseite ebenfalls dämonisiert. Daher kann der Widerstand gegen die autoritären Bewegungen wohl nur hier ansetzen: bei der Angst, nicht mehr dazuzugehören. Denn aus dieser Angst bezieht das autoritäre Dispositiv seine Energie. Die Erfahrung, dass man willkommen ist, kann mehr in Bewegung bringen als Fakten und Logik.
Sieglinde Geisel ist freischaffende Journalistin, Literaturkritikerin und Autorin. Die gebürtige Schweizerin lebt in Berlin und schreibt regelmässig für den Deutschlandfunk Kultur, SRF2 und die Republik. Zudem ist sie Lektorin und gibt Schreibkurse u.a. für Doktorierende an der Universität St. Gallen, an der Freien Universität Berlin (Literaturkritik) sowie im Juni 2020 erstmals das viertägige Schreibseminar «Schreiben im Flow» für Bildungkirche. [tocco-encoded-addr:MTE1LDQ2LDEwMywxMDEsMTA1LDExNSwxMDEsMTA4LDY0LDExNSwxMTAsOTcsMTAyLDExNyw0NiwxMDAsMTAx]
WeA Improvisation im Pfarralltag – Vielfältige Aufgaben, wenig Zeit, unvorhersehbare Situationen: Improvisieren kann man lernen. (26.–29.3. und 4.6.2019)