Freunde von mir haben ihren Job gekündigt und sich selbständig gemacht, weil sie zunehmend Mühe mit dem «autoritären Getue» ihrer Chefs hatten. Andere Freunde sind aus der Kirche ausgetreten, weil sie deren «Autoritätsanspruch» nicht länger dulden mochten. Wieder andere erziehen ihre Kinder «antiautoritär», auch wenn das Wort mittlerweile riecht wie ein Flokati-Teppich aus den 70ern.
Ich mag es all diesen Freunden und ihren Bengeln gönnen, dass sie die Ketten abschütteln konnten, die ihnen die Arbeit, die Kirche oder die eigenen Eltern umgelegt hatten. Freiheit ist ein schönes Gefühl. Allerdings nicht mehr als ein Gefühl, denn frei sind diese Freunde genauso wenig wie ihre vermeintlich versklavten Zeitgenossen. Statt ihrem Chef müssen sie jetzt potentiellen Neukunden den Schmus bringen. Statt auf den Papst hören sie auf Elon Musk. Und statt auf ihre Eltern auf Kendall + Kylie.
Selbst wenn sie diesen neuen Respektspersonen ihre Instagram-Gefolgschaft dereinst kündigen sollten, werden sie immer noch nicht wirklich frei sein. Einer Autorität nämlich entkommen wir nie: uns selbst, unseren Genen (biologisch gesprochen) oder unserem Wesen (philosophisch). Wir sind, wer wir sind, und wir tun, was wir tun, weil wir eben sind, wer wir sind. Wir können, wie man sagt, nicht aus unserer Haut.
Was wir aber können und automatisch tun, ist uns verändern, Tag für Tag. Es lohnt sich meiner Erfahrung nach, sich hin und wieder zu überlegen, welche Person wir idealerweise sein könnten. Welcher Niko, welche Esther, welche Lina, welcher Rolf (fügen Sie hier einfach Ihren Namen ein). Es lohnt sich, mit dieser Person etwas Zeit zu verbringen – in Gedanken, versteht sich – und sie zu beobachten: Was würde sie sagen, was tun, was beschliessen? Dieser Person – unserem idealen Selbst – sollten wir mit allergrösstem Respekt begegnen. Sie ist die einzige Autoritätsperson, die wir garantiert nie loswerden. Und sie ist unser bestes Vorbild.
Niko Stoifberg ist 1976 in Luzern geboren und leitet die englische Redaktion bei getAbstract. Zuvor hat Stoifberg in der französischsprachigen Schweiz Germanistik studiert und als Journalist gearbeitet – unter anderem für Das Magazin, Merian und den Schweizer Monat. Ende Januar 2019 erschien sein Romandebüt «Dort» beim Nagel & Kimche-Verlag.