Von David Plüss
Wer autoritär kommuniziert, übertritt eine rote Linie. Ein autoritärer Stil wird nicht geschätzt, weder in der Kirche noch anderswo. Mit «autoritär» wird ein bestimmtes Verhalten, ein Stil oder ein Charakterzug taxiert. Es handelt sich meist um eine Fremdzuschreibung. Keiner würde sein eigenes Verhalten oder seine Person als autoritär bezeichnen. Anders verhält es sich mit der «Autorität», obwohl beide Begriffe dieselbe Herkunft haben (Autorität und autoritär: lat. auctor = Autor; bzw. auctoritas = Würde, Ansehen, Einfluss.). «Autorität» ist positiv konnotiert. Sie wird Personen und Positionen zugesprochen, nicht Handlungen. Oder sie wird beansprucht. Die attestierte oder beanspruchte Autorität bezieht sich entweder auf Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen einer Person oder haftet an einem Amt oder einer Funktion. Die Richterin hat ihre Autorität durch ihr Amt. So auch der Pfarrer in früheren Zeiten. Seit 1968 scheint die pastorale Amtsautorität im Sinkflug. Fachkompetenz, Ausstrahlung und Überzeugungskraft werden immer wichtiger, um die pastorale Autorität zu stützen. Die beiden Begriffe «autoritär» und «Autorität» weisen also deutlich unterschiedliche normative Ladungen auf. Hinzu kommt, dass «Autorität» als deskriptiver, analytischer oder normativer Begriff fungiert, «autoritär» nur als abwertend-normativer.
Handelt es sich hier tatsächlich um eine Spannung oder nicht eher um Kontrastfolien, die keiner weiteren Erörterung bedürfen? Ich meine, die Verhältnisse seien komplizierter. Der erste Eindruck trügt. Zum einen haben sich die Grenzen des Autoritären in den letzten hundert Jahren verschoben. Diese Verschiebung hat, so meine These, nicht nur zu einer Sensibilisierung für Machtstrukturen und Übergriffe geführt, sondern zugleich zu Sichttrübungen und blinden Flecken gegenüber Macht und Übergriffen in verwandelter Gestalt. Die normative Aufladung von Attributen im Dunstkreis des Autoritären hat immer wieder dazu geführt, dass subtile, aber nicht weniger wirksame Formen der Macht unsichtbar und unsagbar blieben. Dass dies auch und in besonderer Weise für das Pfarramt gilt, soll im Folgenden angedeutet werden.
Karl Barth hat mit seiner Theologie Kirche und Pfarramt der letzten hundert Jahre geprägt wie kein anderer. Programmatische Vorträge hat er noch als Safenwiler Pfarrer verfasst und gehalten. Im Vortrag «Not und Verheissung der christlichen Verkündigung» sinniert er zu Beginn über die Gründe, warum Menschen einen Gottesdienst besuchen. Nach Barth erwarten Menschen im Gottesdienst ein existenzbegründendes Geschehen, das sie «natürlich nicht einfach heraus[schreien] und am wenigsten uns Pfarrern in die Ohren. Aber lassen wir uns nicht täuschen durch dieses Schweigen […]. Sie erwarten von uns, dass wir sie besser verstehen, als sie sich selbst verstehen, ernster nehmen, als sie sich selbst nehmen. Nicht dann sind wir lieblos, wenn wir tief hineingreifen in die Wunde, mit der sie zu uns kommen, sondern dann, wenn wir sie bloss betippen als wüssten wir nicht, warum sie zu uns kommen.» (106.f) Das Paradigma dieses pastoralen Gestus ist die Verkündigung in Form der Predigt, aber auch in Unterricht und Seelsorge. Nach Hans Asmussen ist Seelsorge ein Gespräch «von Mann zu Mann […], in welchem dem einzelnen auf seinen Kopf zu die Botschaft gesagt wird». Die Theologie Barths, ihre Sprache und ihr pastoraler Gestus haben Mitte des letzten Jahrhunderts Pfarrgenerationen nachhaltig geprägt. Als autoritär wurde sie zunächst nicht empfunden. Sie verstand sich vielmehr als Dienst am Wort Gottes, dem allein Autorität zukommt.
Das änderte sich nach 1968 rasch. Die neuen pastoralen Paradigmen waren die Seelsorge und das Gespräch. Die Wortführer hiessen Joachim Scharfenberg und Dietrich Stollberg. Ihre Kritik fiel heftig aus. Asmussen und Eduard Thurneysen wurde entgegengehalten: «Autoritär muss jede Gesprächsführung genannt werden, die das Gespräch nur dazu benutzen will, um etwas Vorgegebenes, an der Vergangenheit Orientiertes, Bekanntes und Verfügbares 'auszurichten'». Ziele das seelsorgerliche Gespräch auf Verkündigung und Beichte, werde es zwanghaft und autoritär. Der pastorale Dienst müsse dagegen auf Augenhöhe und ergebnisoffen erfolgen und alles Autoritäre sowie den «methodistischen Missbrauch der Sprache» vermeiden.
Die Pfarrbilder der letzten 50 Jahre sind deutlich durch diesen antiautoritären Gestus geprägt. Im aktuellen Berner Pfarrleitbild von 2005 sind die Pfarrerinnen und Pfarrer zuerst und vor allem «Lebensbegleiterinnen und -begleiter». Sie «begleiten» und «vermitteln», «bauen Brücken zwischen den Generationen» und «suchen mit den Menschen ihres Wirkungskreises liturgische und rituelle Formen zur Bewältigung besonderer Lebenssituationen». Scharfenberg hätte seine helle Freude gehabt an diesen Formulierungen. Es finden sich indes auch andere Akzente im Berner Leitbild: Pfarrer/-innen «stehen ein für die christlichen Traditionen und tragen Sorge zu ihnen». Sie «verkündigen» zwar nicht das «Evangelium», aber setzen «sich für die Ausbreitung christlicher Inhalte und Werte ein». Und sie stellen – ganz im Geiste der Befreiungs- und der Feministischen Theologie – «Machtmechanismen und gesellschaftlich erstarrte Rollenzuteilungen in Frage».
Die Abwendung vom Paradigma der «Verkündigung» und die Hinwendung zu dem des ergebnisoffenen «Gesprächs» auf Augenhöhe verband sich von Anfang an mit einer Orientierung an psychologischen und soziologischen Einsichten sowie an Methoden der Gesprächsführung und Beratung. Kompetenzen werden aufgelistet, die für eine gute Amtsführung erforderlich sind. Dabei wird auf den Gestus vermeintlich autoritärer Verkündigung verzichtet. Die Kompetenzdebatte hat die unfruchtbare Polemik zwischen «Verkündigung» und «Gespräch» abgelöst. Hat sie sie auch versachlicht? Mir scheint dies in vielerlei Hinsicht der Fall zu sein. Die Trennlinie zwischen «Autorität» und «autoritär» lässt sich heute nicht mehr auf theologische Schulen verteilen, wohl aber an einzelnen Kompetenzen erörtern. Dies ist mehr als akademisches Glasperlenspiel. Für die kritische Erörterung von Pfarrleitbildern und -kompetenzen ist es unabdingbar, den Grenzstreit zwischen Autorität und Autoritarismus weiterhin und mit offenem Visier zu führen.
Prof. Dr. David Plüss ist ordentlicher Professor für Homiletik, Liturgik und Kirchentheorie am Institut für praktische Theologie der Universität Bern. Zu seinen Arbeits- und Forschungsschwerpunkten gehören Liturgik, Qualitative Religionsforschung, Visible Religion, Religion und Gesellschaft sowie Theologie und Geschlecht.
[tocco-encoded-addr:MTAwLDk3LDExOCwxMDUsMTAwLDQ2LDExMiwxMDgsMTE3LDEwMSwxMTUsMTE1LDY0LDExNiwxMDQsMTAxLDExMSwxMDgsNDYsMTE3LDExMCwxMDUsOTgsMTAxLDQ2LDk5LDEwNA==]
Vom guten Verwalten – Verantwortlich entscheiden zwischen Bibel und Sachzwang (27.–28. Januar 2020)