Von Esther Derendinger
Wer das Grossmünster im Zürcher Niederdorf betritt, wird statistisch erfasst. Per Lichtschranke werden alle Personen gezählt, die den Kirchenraum betreten. Gottesdienstbesucher und Touristinnen gleichermassen. 600 000 sind es jährlich. Es ist ein Ort mit grosser Anziehungskraft.
Die Kirche kann einiges tun, damit sie von Menschen als einladend erlebt wird. Auf institutioneller Ebene schafft sie Strukturen und sorgt so dafür, dass genügend Personal verfügbar ist, um die öffentlichen Räume zu bespielen. «Professionelle Gastfreundschaft soll vom Personal wie auch von Freiwilligen gelebt werden, da investieren wir auch in Weiterbildung der Mitarbeitenden», sagt Christoph Sigrist.
Die Kirche ist aber mehr als Institution. «Betrachten wir die Kirche als Glaubensgemeinschaft mit ihren Gottesdiensten, kann sie dazu beitragen, dass sie Begegnung, Abgrenzung und Auseinandersetzung sucht und sich immer wieder verändert.» Wird sie bequem und banal, verkommt sie zum «Kasualbetrieb». Grenzt sich die Kirche ab, wird sie zur Sekte. Im Grossmünster ist es den Gottesdienstbesuchern trotz Holzbänken wohl. Die Sitzunterlage entscheidet nicht darüber ob die Kirche besucht wird, auch nicht die Musik oder ein Erlebnisgottesdienst, ist Sigrist überzeugt. Das wichtigste überhaupt sei, dass sich Menschen angesprochen fühlen, ihre Emotionalität bespielt wird. Die Viertelstunde Predigt will gut verpackt sein. Das gelingt nur authentischen und charismatischen Pfarrpersonen. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen eine neue Sprache finden, eine Sprache, die verstanden wird, auch wenn Begrifflichkeiten nicht religiös konnotiert sind. So kann der Zuhörer den Gottesdienst als «unterhaltsam» bezeichnen und damit «inspiriert» oder «vom Heiligen Geist berührt zu sein» meinen. Auch sollten Pfarrpersonen den öffentlichen Auftritt mögen, findet Sigrist, sonst wird es schwierig. Das sei für die eine oder den andern eine unbequeme Herausforderung.
Ein weiterer Aspekt der Kirche ist die Wertegemeinschaft. Ihr gehören Menschen aller Glaubensrichtungen an, aber auch Nichtgläubige. Diese Personengruppe fühlt sich mit Kirchenräumen verbunden, ohne dass der Raum für sie religiös aufgeladen ist. Dennoch hat der Raum Resonanz und schwingt, weil er für Menschenrechte einsteht und die Kirche die Stimme erhebt für die Stummen. Das belegt auch die empirische Studie, «Citykirchen und Tourismus», die in 12 Citykirchen zwischen Berlin und Zürich durchgeführt und von Christoph Sigrist herausgegeben wurde.
Als Dorfpfarrer ist Sigrist oft im «Dörfli», dem Zürcher Oberdorf-Quartier, unterwegs. Reformierte, findet er, gehen in den öffentlichen Raum, sie reden mit jedem, setzen sich mit den Menschen und dem, was ist auseinander. Er besucht die Menschen zu Hause, schaut in Läden vorbei oder begegnet ihnen in der Beiz. Damit lebt er ein Grundprinzip, nämlich mit Menschen Leben teilen. Ein Viertel seiner Arbeitszeit hat er dafür eingeplant.
Im Grossmünster ist er auch Touristenpfarrer. «Die vielen Besucher sind manchmal eine Belastung, aber sie sind nicht Menschen zweiter Klasse», betont er. Auch sie suchen und finden etwas bei uns in der Kirche. «Das Grossmünster ist offen für alle. Wir unterscheiden nicht mehr zwischen Touristen und Gottesdienstbesuchern», sagt er. Nebst den Gottesdienstbesuchern kommen die einen, weil sie an Architektur interessiert sind, andere wegen der eigenen Biografie oder aus kunsthistorischem Interesse. Wirklich spannend sind für Pfarrer Sigrist aber jene, die sich unverhofft in der Kirche wiederfinden, die da sind, weil ihnen der Raum gut tut, ohne dass sie sich selber als religiös betrachten. Das ist für Sigrist ein Indikator dafür, dass sich städtische Kirchenräume in den letzten 20 Jahren als Forschungslabor postsäkularer Religiosität entwickelt haben.
Überall da wo Mensch, Kultur oder Natur unter die Räder kommen, muss Kirche unbequem sein, anecken, herausfordern und sich auch politisch erheben. Christoph Sigrist ist die diakonische DNA eingeimpft. Umtriebig wie er ist, setzt er sich auf verschiedenen Ebenen für Benachteiligte ein. Dafür hat er zusammen mit vielen anderen zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, wie eine Notwohnung für Bedürftige, das Solidaritätsnetzwerk für Migrierte «Solinetz», ein Spendenparlament, und er engagierte sich für die City Card, dem Ausweis für Stadtzürcher, mit dem sich auch Sans Papier ausweisen können.
Was er auf der Kanzel predigt, will er auch umsetzen. Dafür sammelt er Geld. Bei seinen Zunft-Kollegen oder beim Rotary Club. Sein breites Netzwerk in Wirtschaft und Politik unterstützt seine Vorhaben meistens finanziell. Ein Pfarrer in einer Zunft oder als Mitglied im Rotary Club scheint auf den ersten Blick befremdlich. Diese Netzwerke bringen ihm aber mehr als nur Spendengelder. Es ist für ihn der Eintritt in eine Männerdomäne, die, so sagt er, ein Ausgleich sei für den weiblich konnotierten Pfarrberuf: «Religion wird der Frau delegiert, Frauen engagieren sich in der Freiwilligenarbeit und Frauen kommen in den Gottesdienst.» In der Männerkultur könne er Freundschaften schliessen, Netzwerke aufbauen und sich da aufhalten, wo das Geld ist, denn die Urzürcher seien spendenfreudig. Die so entstandenen Verbindungen ermöglichen es ihm, seine diakonischen Visionen zu finanzieren und umzusetzen. Dieses Grundprinzip von Ökonomie in der Kirche, nämlich «diakonisch Geld waschen», habe er von Zwingli gelernt.
Christoph Sigrist bezeichnet sich selber als «etwas schrägen Vogel», der kein Blatt mehr vor den Mund nimmt, manchmal unbequem wird, weil er etwas bewegen will. Sich auch mal unbeliebt macht. Aber schlussendlich sei es so, sagt er: «Bequeme Menschen sind nicht beliebt, nur unbequeme. Bequem ist langweilig. Unbequeme sind aber auch nicht bei allen beliebt.»
Prof. Dr. Christoph Sigrist ist Pfarrer am Zürcher Grossmünster und Privatdozent für Diakoniewissenschaft am Institut für Systemische Theologie der Universität Bern.
Zudem ist er Mitglied oder Präsident in diversen diakonischen Stiftungen und in übergemeindlichen Gremien und war während fast 25 Jahren als Armeeseelsorger in der Schweizer Armee tätig.
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grossmuenster.ch
Gottesdienst lieben und verändern: Wir mögen, was wir können, aber wir können auch anders –
Gottesdienst-Aufbrüche im Wandel der Kirche (11.–15.5.2020)
Buchtipp:
Citykirchen und Tourismus – Soziologisch-theologische Studien zwischen Berlin und Zürich.
H. Rebenstorf, Ch. Zarnow, A. Körs, Ch. Sigrist (Hrsg.)
Evang. Verlagsanstalt Leipzig, 2018.
Projekte und Netzwerke:
spendenparlament.ch
solinetz-zh.ch
zuericitycard.ch
zunft-hottingen.ch
rotary-zuerich.ch