Von Isabel Hartmann
Vertiefungswege verlangen uns ab, noch genauer wahrzunehmen, wie die Situation sich anfühlt mit ihren unterschiedlichen Facetten und Wirkungen auf die betroffenen Personen. Auch die Enttäuschung darüber, dass alle bisherigen Versuche, sie zu lösen, gescheitert sind. Die Sehnsucht nach einer neuen Zukunft wird stärker und drängender, ohne dass ihre Erfüllung bereits abzusehen ist.
Auch spirituelle Wege haben unbequeme Phasen. Die Hilfe Gottes kommt oft nicht so schnell und so passgenau, wie Menschen es sich wünschen. Wer sie geht, öffnet sich für Wandlungsprozesse, die uns mit unserer Existenz ganz in Anspruch nehmen, mit Herz und Nieren. Im Hören und Warten auf Gott halten wir die Sehnsucht wach und öffnen uns, im Hier und Jetzt Gottes Gegenwart zu entdecken, seinen Ruf zu hören und zu spüren, woher uns göttliche Kraft zufliesst. Aus meinem persönlichen Leben sind mir solche Wege vertraut. Auch aus der Exerzitienarbeit und der geistlichen Begleitung Einzelner, die nach geistlicher Vertiefung für ihren persönlichen Weg suchen. Dafür gibt es viele Orte und Angebote.
Immer mehr Menschen wollen nicht nur für sich persönlich nach Vertiefung suchen. Sie wollen es als Verantwortliche in Kirche und Gesellschaft gemeinsam mit ihrem Leitungsteam oder in ihren Gremien tun. Sie fragen als Gruppe: Was ist der Weg, den wir gemeinsam gehen können?
Wie können wir die spirituelle Dimension auch für das soziale System, für Gremien und Teams konsequent einbeziehen? Sie suchen nicht nach schnellen Lösungen, die das Bisherige lediglich in die Zukunft hinein verlängern. Sie suchen nach neuen Lösungswegen. Ich fand Inspirationen für diese Fragen in einem Netzwerk von Menschen, die sich unabhängig von einer christlichen Perspektive in einer ähnlichen Suchbewegung befanden. Allen gemeinsam ist, dass sie sich um Vertiefung des gemeinsamen Beratens bemühen und dabei auch nach der spirituellen Dimension fragen.
Ein Beispiel dafür ist Otto Scharmer und das Presencing Institut
(www.presencing.com). Scharmer erforschte die Bedingungen für die Entstehung von Innovationen in sozialen Systemen der Wirtschaft und Non-Profit-Organisationen. Er stellte fest: Es gibt neben der rationalen Ebene der Erkenntnis noch eine tiefere, die des intuitiven Wissens. Wirkungsvolle Innovationen entstammen diesem Bereich. Wenn ein System daraus schöpfen will, braucht es eine vertiefte Wahrnehmung, ein intensiveres Hören, als wir es gemeinhin praktizieren. Im Spüren und bewussten Hören auf sich selbst, auf die anderen, auf die Gemeinschaft und das Ganze geschieht «presencing», ein Kunstwort aus presence (Gegenwart) und sensing (spüren, einfühlen). Die Akteure öffnen sich für die gegenwärtige Situation und lassen bewusst eigenen Urteile, Vorstellungen und Handlungsimpulse los. So entsteht Verbundenheit untereinander, die Chance, sich gemeinsam auf das Ganze und die je eigenen inneren Quellen auszurichten, und Lösungen, die zukunftsfähig sind.
Das stachelte mich an. Warum sollten wir nicht auch im Miteinander der Kirche vertiefte Wege des Hörens gehen? Es ist doch unser ureigenes «Geschäft», auf Gottes Reden zu hören. Es entspricht dem Wesen geistlichen Lebens, sich auf den Ruf Gottes auszurichten. So entwickelte ich gemeinsam mit Reiner Knieling «Geist und Prozess», ein spirituelles Prozessdesign für Gremien und Organisationen. Wir schöpften aus dem Zusammenspiel vieler Erfahrungen aus Kreativitätsforschung und Dialogkultur und dem grossen Erfahrungsschatz geistlicher Menschen, die im Hören auf Gott herausfordernde Wege gegangen sind, auch in unbequemen Zeiten.
In den christlichen Kirchen werden engagierte Menschen, gesellschaftliche Bedeutung und Ressourcen weniger. Verantwortliche wollen entdecken, wozu Gott uns heute ruft und welche Wege kraftvoll sind. In der Arbeit «Geist und Prozess» begleiten wir sie darin, gehen ein Stück des Weges mit und geben Anregungen für das gemeinsame Hören aufeinander und auf die Stille. Dabei verlassen wir uns darauf, dass Gott gegenwärtig ist und ohne unser Zutun bereits wirkt. In Gott, der Quelle des Lebens, ist alles schon da, was gebraucht wird. Dieses Vertrauen entlastet und macht frei. Frei zur Wahrhaftigkeit: was gehört zur ganzen Wirklichkeit unserer Situation? Auch die unangenehmen Wahrheiten dürfen angeschaut, müssen nicht versteckt werden. Das bringt unterschiedliche Gefühle und Sichtweisen auf den Plan, auch unterschiedliche, teils gegenläufige Glaubensprägungen. Auch diese dürfen sich ausdrücken, ohne dass etwas damit «gemacht» werden muss. Wenn wir aus den Quellen Gottes schöpfen wollen, braucht es eine Atmosphäre, in der sich Vertrauen bilden kann, auch Vertrauen in Gott.
Schöpferische Dialoge verlangen von allen Beteiligten die Bereitschaft, Ungelöstes, Disharmonisches auszuhalten und der Versuchung zu widerstehen, aus sich heraus vorschnell zur Lösung zu springen. Sie öffnen die Chance für neue Erfahrungen. Die Akteure entdecken: Sie müssen viel weniger «schaffen», als sie denken. Der nächste Schritt fällt ihnen zu, er wird geschenkt, oft überraschend und unverhofft. Und er entsteht oft erst nach einer Phase des Aushaltens und gemeinsamen Wartens auf göttliche Inspiration. Sie sagen hinterher: Mit dieser Lösung hätten wir nicht gerechnet, kein Einzelner von uns hätte sie so finden können! Solchen geschenkten Lösungswegen wohnt eine andere Kraft inne. Mit ihnen kommt der Mut und die Phantasie, sie zu gehen.
Isabel Hartmann ist Pfarrerin und geistliche Begleiterin. Am Gemeindekolleg der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) ist sie stellvertretende Leiterin. hartmann@
gemeindekolleg.de
Buchtipps:
Gemeinde neu denken. Geistliche Orientierung in wachsender Komplexität. I. Hartmann, R. Knieling. Gütersloher Verlagshaus, 2014.
Gott: Wie wir den Einen suchten und das Universum fanden. I. Hartmann, R. Knieling, Gütersloher Verlagshaus, 2019.