Von Brigitte Küster
«Sei nicht so empfindlich», «was du schon wieder hast», «Weichei», «Mimose» – Aussagen wie diese zeigen eine Haltung, welche Sensibilität abwertet. Über das gebotene Mass hinaus empfindsam zu sein, wird in der mitteleuropäischen Kultur als Schwäche angesehen. Menschen mit der Veranlagung einer erhöhten Empfindsamkeit gelten als wenig belastbar, empfindlich und so, als müsse man im Kontakt mit ihnen jedes «Wort auf die Goldwaage legen» oder sie «in Watte packen». Dieses einseitig negative Bild ist teilweise auf unseriöse Berichterstattung zurückzuführen, in der dieses Temperamentsmerkmal vor allem mit seinen Schattenseiten dargestellt wird, aber auch dem Umstand geschuldet, dass empfindsame Menschen selbst durch ihr Verhalten dazu beitragen. Sie können tatsächlich oft sehr irritiert, verwirrt, chaotisch und etwas unberechenbar wirken. Es sieht manchmal so aus, als müssten viele Bedingungen erfüllt sein, damit «es für sie stimmt», gleich, ob es sich um räumliche Verhältnisse oder um Beziehungen zu anderen Menschen handelt. Das dies so sein kann, aber nicht sein muss und dass sich Empfindsamkeit viel komplexer verhält, ist bereits gut erforscht.
Umgangssprachlich hat sich für dieses Temperamentsmerkmal der Begriff Hochsensibilität eingebürgert. Dieser Begriff wurde von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron Mitte der Neunzigerjahre des 20. Jahrhunderts geprägt. Andere Wissenschaftler wie Thomas Boyce oder Michael Pluess von der Queen-Mary-Universität in London konnten nachweisen, dass es 15–20 Prozent hochsensible Menschen in der Gesamtbevölkerung gibt. Es handelt sich dabei um ein angeborenes Temperamentsmerkmal. Ob diese Veranlagung im späteren Lebensverlauf eine eher negative oder positive Konnotation erhält, hängt massgeblich von den Umgebungsbedingungen ab, denen hochsensible Menschen ausgesetzt sind.
Die Forscher konnten belegen, dass Empfindsamkeit sich nur dann negativ entwickelt und von den Betroffenen als negativ angesehen wird, wenn sie wenig förderlichen Bedingungen oder instabilen Familienverhältnissen ausgesetzt waren. Erlebten empfindsame Kinder aber liebevolle Zuwendung und wurden sie so angenommen, wie sie waren, profitierten sie sogar mehr als die normalsensible Vergleichsgruppe davon. Erhöhte Empfindsamkeit an sich ist also neutral, weder gut noch schlecht, und viele Eigenschaften, welche hochsensiblen Menschen zugeschrieben werden, wie zum Beispiel Perfektionismus oder Gerechtigkeitssinn, entstehen durch das Leben, hängen aber nicht ursächlich mit der Veranlagung zusammen.
Was alle hochsensiblen Menschen gemeinsam haben, hat Elaine Aron aufgrund der Forschungslage zu vier Kriterien zusammengefasst. Es sind die gründliche Informationsverarbeitung, Übererregbarkeit, emotionale Intensität sowie sensorische Empfindlichkeit. Konkret bedeutet dies, dass Hochsensible aufgrund der gründlichen Informationsverarbeitung viel und tiefgründig über alles Mögliche nachdenken. Sie können Zusammenhänge schnell erfassen, malen sich Szenarien aus, denken vernetzt und sind oft damit beschäftigt, die Vielfalt der Eindrücke zu «sortieren». Dies steht im Zusammenhang mit der Übererregbarkeit, da ständig viele Reize aufgenommen und verarbeitet werden müssen. Das können äussere Reize sein wie Licht- und Temperaturverhältnisse, die Luftqualität oder Menschenansammlungen, aber auch innere Reize wie Gedanken, Befindlichkeiten, Stimmungen und Emotionen. Diese sind, wie das Kriterium der emotionalen Intensität nahelegt, bei Hochsensiblen besonders stark. Und schliesslich verfügen empfindsame Menschen auch über eine ausgeprägte Sensorik – es kann sein, dass sie visuell Details wahrnehmen oder besonderen Wert auf Ästhetik legen, aber auch, dass sie Geräusche, Gerüche oder Geschmäcker verstärkt empfinden.
Hochsensible benötigen viel Regenerationszeit, um die Reize verarbeiten zu können. Aus dieser Beschreibung wird schon ersichtlich, dass das Leben für Hochsensible anstrengend sein kann. Deshalb ist die vielzitierte geringe Belastbarkeit, die empfindsamen Menschen so oft zugeschrieben wird, für mich ein Mythos. Die Tatsache, dass Hochsensible jeden Tag so viel aufnehmen und verarbeiten müssen und dass es ihnen trotzdem gelingt, das Leben zu meistern, bedeutet für mich, dass sie sogar ausserordentlich belastbar sind, und dass sie nur ihre Kraft ungeschickt einsetzen.
Im christlichen Kontext wird Hochsensiblen oft die Gabe der Prophetie zugesprochen. Zugegeben, sie besitzen oft eine gute Intuition, die es ihnen ermöglicht, Menschen schnell in ihrem Wesen zu erfassen. Daraus kann die Haltung erwachsen, eine Art «Sprachrohr» zwischen Gott und den Menschen zu sein und in der Gemeinde, in der Seelsorge oder beim Gottesdienst als «Stimme Gottes» aufzutreten. Mir scheint es ausserordentlich wichtig zu sein, zwischen den eigenen Bedürfnissen, Motivationen, Erfahrungen und Eingebungen, die aus einer Verbindung zum Göttlichen entstehen, zu unterscheiden. Wenn das gelingt, sind empfindsame Menschen sehr wertvoll für die Gemeindearbeit. Sie sind verbindlich, zugewandt, empathisch und engagiert. Man kann sich auf sie verlassen, sie verfügen über einen hohen ethisch-moralischen Massstab und sie merken schnell, wenn etwas aus dem Ruder läuft oder es anderen Gemeindemitgliedern nicht gut geht.
Ich halte es für günstig, wenn wir eine Kultur der Toleranz einüben und jeden Menschen mit seinem Temperament wertschätzen. Toleranz meint hier nicht, alles hinzunehmen, sondern aufmerksam zu beobachten und zu begleiten. Lernen wir, Sensibilität zu schätzen und willkommen zu heissen. Empfindsamkeit ist wichtig, gerade in Zeiten des Terrors, des politischen Säbelrasselns und der dominanten Machtausübung braucht es sie.
Brigitte Küster ist Leiterin des Instituts für Hochsensibilität (www.ifhs.ch). Sie ist im gesamten deutschsprachigen Raum als Referentin zum Thema Hochsensibilität unterwegs. Zudem begleitet sie hochsensible Menschen in Einzelberatungen, ist regelmässig in der Lehrerfortbildung tätig und hat bereits vier Bücher zum Thema veröffentlicht. [tocco-encoded-addr:MTExLDEwMiwxMDIsMTA1LDk5LDEwMSw2NCw5OCwxMTQsMTA1LDEwMywxMDUsMTE2LDExNiwxMDEsNDUsMTA3LDExNywxMDEsMTE1LDExNiwxMDEsMTE0LDQ2LDk5LDExMSwxMDk=]
«Hochsensibilität –
Empfindsamkeit leben und verstehen». Das Buch informiert in kompakter Form über das Thema und gibt Hilfen zum Umgang mit Hochsensibilität. Brigitte Schorr, SCM-Hänssler Verlag, Holzgerlingen (DE), 8. Auflage 2018