Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Sie arbeiten mit Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörungen. Wie entstehen solche Störungen und gibt es eine Entwicklung?
Hans-Peter Bangerl: In achtzig Prozent der Fälle sind Mädchen betroffen. Das hat in den letzten zehn Jahren sprunghaft zugenommen. Der Anteil der Jungs hat sich hingegen kaum verändert. Die Störung tritt meist in der Pubertät auf als Teil einer entwicklungspsychologischen Identitätskrise. Allerdings finden Jugendliche in dieser Phase im Internet Selbstdiagnose-Anleitungen: «Wenn dich stört, dass dein Busen wächst, oder wenn dir deine Menstruation unangenehm ist, dann bist du transgender.»
TS: Dann spielt also auch das Umfeld eine Rolle für die Entwicklung einer transsexuellen Identität?
HPB: Bei einigen Mädchen sind häufig noch kurz vor der Krise und dem entstehenden Wunsch, als Junge zu leben, Facebook-Einträge mit langen Haaren und lackierten Fingernägeln zu sehen. Manche dieser Identitätskrisen entstehen auch in einem Kontext, wo Mädchen sich als sozial ausgegrenzt erleben. Mit ihrem Wunsch, im anderen Geschlecht zu leben, erhalten sie innerhalb einer Klassengemeinschaft eine neue soziale Wichtigkeit und Zugewandtheit.
TS: Welche Hypothesen haben Sie für die rapide Zunahme?
HPB: Die Rollen haben sich verwischt. Mädchen, Frauen und Jungen haben meines Erachtens keine echten Rollenbilder mehr, aber es gibt Geschlechterunterschiede. Natürlich ist es schwierig, das heute so zu sagen. In meiner Praxis sehe ich jedoch, wie diese Uneindeutigkeit grosse Schwierigkeiten macht – vor allem bei Mädchen. Sie erhalten durch die Gesellschaft keine klaren weiblichen Vorbilder.
TS: Die Supermodels in TV-Shows werden kaum taugen zum weiblichen Rollenmodell…
HPB: Das ist viel zu oberflächlich. Als Frau möchte man sich damit nicht identifizieren. Ich möchte mich auch nicht mit Bodybuildern identifizieren. Aber anscheinend ist das Männerbild immer noch stabiler als das Frauenbild. Deshalb ist der Anteil der Jungs gering. Natürlich gibt es auch eine Gruppe von Mädchen und Jungen, die schon früh burschikos bzw. mädchenhaft agieren und von niemandem gedrängt werden. Da sind weder Diagnose noch Verfahren ein Problem. Ein Problem haben wir bei diesem Gros an pubertären Identitätskrisen.
TS: Wie sieht die Entwicklung bei den pubertären Identitätskrisen aus?
HPB: Einige Mädchen finden den Weg zurück. Viele von ihnen jedoch nicht. Da ist auch die Gesetzgebung mitschuldig, die ab 16 Jahren gegengeschlechtliche Hormoneinnahme erlaubt und damit der Druck auf die Behandler steigt. Daneben gibt es Jugendliche mit schweren psychischen Störungen wie Depressionen, Psychosen oder Traumatisierungen. Bei ihnen herrscht die Hoffnung, dass eine Geschlechtsumwandlung alle psychischen Probleme beseitigen könnte. Wenn es gelingt, die Basiserkrankung in den Hintergrund zu rücken, löst sich manchmal der Wunsch, im anderen Geschlecht weiterleben zu wollen. Deshalb ist es für alle Gruppen wesentlich, dem Prozess eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren zu geben.
TS: Sind die Jugendlichen, die geschlechtsangleichende Schritte machen, auf längere Sicht zufrieden mit ihrem neuen Geschlecht?
HPB: Wir haben diesen Hype in Österreich seit sieben Jahren. Die ersten Operationen finden erst jetzt statt. In ungefähr zehn Jahren können wir diese Frage beantworten.
TS: Gibt es transsexuelle Menschen, die bewusst auf geschlechtsangleichende Behandlungen verzichten?
HPB: Das gibt es. Die Konzepte von Menschen, die sich als non-binary verstehen, gehören zu einem blühenden Strauss von Ideen, die noch so neu und noch nicht erforscht genug sind, um damit Kategorien zu bilden. Ich deute dies als Zeichen einer Unsicherheit, ein Zeichen dafür, etwas ganz Besonderes sein zu wollen. Das ist oft wichtiger als Geschlecht oder Sexualität. Die Position in der Peergroup ist entscheidend.
TS: Hätten transsexuelle Menschen eine «Botschaft» für die Gesellschaft?
HPB: Ich würde diese Botschaft so lesen: «Liebe Menschen, wehret den Auflösungen sozialer Strukturen!» Ich erlebe, dass sich vieles einfach auflöst – Familien, Jugendgruppen, Rollenbilder. Ich glaube, das schafft mehr Probleme, als es vermeintlich eine positive Entwicklung sein kann. Mit dieser Uneindeutigkeit können vielleicht hoch differenzierte Menschen umgehen. Viele andere aber nicht.
TS: Was sind hilfreiche Begleitumstände für eine gute Entwicklung?
HPB: Alles, was die Ursprungsidentität festigt und stärkt, ist positiv. Das zeigt die Entwicklungspsychologie. Bevor sich Jugendliche in der Pubertät dem anderen Geschlecht zuwenden, muss eine männliche oder weibliche Identität ausgebildet werden. Deshalb gibt es geschlechtergetrennte Gruppen, die sich zusammenfinden und Dinge ausprobieren. Die Forschung zeigt: Kinder, die in einer Transgender-Gruppe sind, neigen eher dazu, diese Selbstdiagnose in einer Krise anzunehmen. Sie unterstützen sich in Ihrer Symptomatik oder setzen Mitglieder unter Druck. Es wird über Hormoneinnahme und über Operationstechniken diskutiert.
TS: Kirchliche Jugendgruppen – unter anderem der Cevi – funktionieren geschlechtergetrennt. Ist das ein sinnvolles Modell?
HPB: Ich finde es sehr gut. Es geht dabei nicht um eine moralische Frage. Aber für ihre Entwicklung ist es zentral, die eigene Identität in einer Gruppe zu festigen. In vielen Kulturen sind Mädchen und Jungen zu gewissen Zeiten getrennt. Mit einem Ritual werden Sie wieder zusammengeführt.
TS: Die Konfirmation wird an manchen Orten als rite de passage zum Erwachsenenalter – und auch als Initiationsritual der Mädchen und Jungen – verstanden.
HPB: Das wäre eine sinnvolle neue Variante dieser kirchlichen Riten. Und man könnte dann auch die Sexualität einbringen: Was ist mit deiner sexuellen Identität? Was für körperliche Bedürfnisse habe ich? Diese Fragen sollten im Zusammenhang mit Übergangsritualen zum Erwachsenwerden eine wichtige Rolle spielen.
Mag. Hans-Peter Bangerl ist Psychotherapeut mit eigener Praxis in Wien. Er hat sich spezialisiert auf Identitätsstörungen, Intergeschlechtlichkeit bei Kindern und Jugendlichen, Sexualität und Transidentität. Zu diesen Themen ist er auch in die Forschung involviert.
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