Eigentlich versuche ich, ein aufmerksamer Mensch zu sein. Wenn ich sehe, wie jemand auf den Bus hetzt, dann halte ich die Türe auf. Wenn eine Freundin an ein Vorstellungsgespräch eingeladen ist, wünsche ich ihr vorher Erfolg. Und wenn ich mit meinen Kindern im Park picknicken, dann hinterlassen wir keinen Müll, den jemand anders wegräumen müsste. Doch kürzlich hatte ich so einen Moment, da fühlte ich mich schrecklich ignorant. Für die Organisation einer – derzeit leider digitalen – Veranstaltung schrieb ich mehrere Leute zusammen im gleichen Verteiler an. In der Regel denke ich mir dafür eine individuelle Anrede aus. Also nicht einfach: Liebe Schreiberinnen und Schreiber. Sondern zum Beispiel: Liebe Dichterinnen und Poeten. Auf jedenfall kam flugs schon eine Antwort auf meine Mail.
«Da ist ein kleines Detail», hiess es dort. «Es sind nicht nur Dichter und Poetinnen, die da geschrieben haben. Ich identifiziere mich non-binär (also nicht Frau oder Mann) und fände es schön, wenn das auch so abgebildet würde.» Das Anliegen war mir total verständlich, wie ich in meiner Antwort ausformulierte. Dichter*innen, Poet*innen – eigentlich ist es doch nur logisch, das auch auf der sprachlichen Ebene das Sternchen zwischen den Geschlechtern sitzt. Nachdem ich die Mail abgeschickt hatte, kam mir es siedeheiss in den Sinn. Ich hatte geschrieben: Liebe Noa. Bäm! Meine doppelte Trampeligkeit, die war mir ziemlich peinlich. Nun weiss ich, dass vergeschlechtlichte Pronomen wie «ihr» oder «sein» nicht immer passend sind. Und das es bei den Anreden ziemlich viele ungeschlechtliche Möglichkeiten gibt wie: Hoi Noa. Hallo Noa. Oder meine Favoritin: Lieb Noa. Und so war ich dann auch sehr erleichtert, als ich als Reaktion auf meinen Lapsus ebenfalls eine Ansammlung von Sonderzeichen zurückerhielt. Nämlich ein :-)
Seraina Kobler ist 1982 in Locarno geboren. 2017 gründete Sie die Agentur Federa, wo sie als Autorin, Beraterin und Lektorin tätig ist. Seraina Kobler studierte Kommunikation und Literarisches Schreiben und arbeitete über mehrere Jahre als Redaktorin bei verschiedenen Zeitungen. Ihr erster Roman «Regenschatten» erscheint im September 2020.
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