Von Juliane Hartmann
Juliane Hartmann: Christine, was kannst du eigentlich besser als andere?
Christine Neresheimer: Das ist eine gute Frage: Ich kann vermutlich besser kochen als mein Mann.
In welchem Kontext verwendet deine Profession, die Entwicklungspsychologie, den Begriff «besser»?
CN: «Besser» als normativen Begriff benutzt die Entwicklungspsychologie nicht, sie würde vielmehr sagen: Ein Kind hat sich in einem Bereich (weiter)entwickelt. Doch de facto ist es natürlich trotzdem so, dass ein Kind beispielsweise besser als andere Klavier spielen kann. Das wäre dann auch in einem Hirnscan sichtbar.
Wie beschreibt die aktuelle Entwicklungspsychologie die Entwicklung von Kindern?
CN: Das populäre Stufenmodell nach Piaget gilt inzwischen als überholt. Eine Stufe impliziert, dass man diese erreichen muss, um die nächste erreichen zu können. Wir arbeiten aktuell unter anderem mit einem Baummodell, in dem die Kernkompetenzen, die ein Kind mitbringt als Wurzeln dargestellt sind. Soziale Kompetenzen zum Beispiel sind inhärent; der Beginn ist bei allen Menschen ähnlich. Doch die Frage ist , wie das Kind aufwächst, mit wie vielen Bezugspersonen, mit welchen sozialen Ressourcen. Die Umwelt hat einen grossen Einfluss auf das Wachstum des Baumes und die Entwicklung der individuellen Anlagen.
Gibt es auch eine Rückwärtsentwicklung, etwas, das schlechter wird?
CN: Entwicklung geht in einer Art Wellen von sich. Nehmen wir zum Beispiel die emotionale Kompetenz: Kinder lernen schon sehr früh, den Gesichtsausdruck zu deuten, wenn jemand wütend ist. Doch wenn sich im Jugendalter der Frontalkortex umbaut (und man muss hier tatsächlich von Umbau sprechen), haben Jugendliche zeitweise massive Schwierigkeiten, Emotionen korrekt zu erkennen. Später kehrt diese Fähigkeit wieder zurück.
Und Fähigkeiten, die ganz verloren gehen?
CN: Wenn Kinder auf die Welt kommen, könnten sie jede Sprache der Welt verstehen oder lernen. Die Fähigkeit ist vorhanden, doch sie verliert sich rasch. Auch hier hat die Umwelt grossen Einfluss: kleine Kinder bewegen sich gerne und lachen viel – doch im Kindergarten ist zeitweise Stillsitzen und Ruhigsein gefordert. Zugleich realisiert ein Kind in der Entwicklung des Ich-Bewusstseins, dass es sehr viele verschiedene Emotionen wie Trauer, Wut, Freude gibt.
Und wie beginnt das Konzept des Vergleichens bei Kindern, wenn sie realisieren: ich kann etwas besser?
CN: Schon vor dem ersten Geburtstag kann ein Kind Empathie empfinden. Das ist eine erste Form des Ich-Bewusstseins – der Voraussetzung fürs Vergleichen. Mit 18 Monaten kann es verstehen, dass es eine eigene Persönlichkeit ist. Das kommt zusammen mit Motorik und Sprache: beides ermöglicht ein neues Verständnis der Welt und von sich selbst. Damit kommt auch die Idee: ich kann etwas besser. Bereits mit zwei Jahren realisiert ein Kind: ich kann zum Beispiel besser essen als meine kleine Schwester, die noch ein Baby ist. Das Vergleichen fängt früh an.
Könnte man sagen, Vergleichen gehört konstitutiv zum Menschsein?
CN: Das ist sehr kulturspezifisch. Ich vermute, dass sich ein zweijähriges Kind in einer Kultur, in der die Gemeinschaft wichtiger ist als das Individuum, nicht vergleichen wird. Dort würde auch eine Hauptbezugsperson nicht werten oder bewerten, sondern die Dinge einfach hinnehmen, wie sie sind.
Ist Vergleichen für die Entwicklung eher förderlich oder eher hinderlich?
CN: Wenn eine Grundanlage vorhanden und das Ziel erreichbar ist, kann es unterstützend und entwicklungsfördernd sein. Sind die Voraussetzungen jedoch nicht gegeben, ist Vergleichen überfordernd und steht damit der Entwicklung im Weg.
Ist Vergleichen gendermässig gleichmässig ausgeprägt?
CN: Da spielen kulturelle Einflüsse eine grosse Rolle: bei Buben fördern wir immer noch den Wettbewerb viel stärker, sei es im Sport oder in der Mathematik. Bei Mädchen steht mehr das Körper-Selbstkonzept im Fokus. Beide Geschlechter vergleichen sich, einfach auf unterschiedlichen Gebieten.
Es gibt doch Menschen, die wollen unbedingt besser sein, und andere sehen das eher entspannt. Wie kommt das zustande?
CN: Nach dem Konzept des Temperaments, kommt ein Kind mit einem bestimmten Erregungsmuster zur Welt, das schon direkt nach der Geburt sichtbar ist. Diese Muster zeigen sich meist auch in der Generation vorher oder nachher. So gibt es die eher gemütlichen Kinder und die sehr erregbaren, aktiven. Wichtig ist das Zusammenspiel mit der Umwelt: wie sie auf das Temperament des Kindes, das sogar genetisch nachweisbar ist, reagiert. Kann das Kind so gemütlich unterwegs bleiben, wie es ihm entspricht? Bekommt es so viel Anregung, wie es braucht? Ein «Misfit» kann da zu erheblichem Stress in der Entwicklung führen.
Was alles beeinflusst die Entwicklung – auch in Richtung «besser»?
CN: Einige Aspekte entwickeln sich universell und unabhängig von der Umwelt, zum Beispiel die Motorik. Jedoch kann ein Blick auf die Entwicklung sich nicht im Mikrosystem erschöpfen, sondern muss bis ins Exosystem reichen. Dazu gehört unter anderem auch, welche Werte gelten und welche Gesetze herrschen. Es könnte sein, dass die momentane Maskenpflicht einen Einfluss auf die Entwicklung von Kindern hat und eine nächste Generation vielleicht mehr Angst haben wird.
Ist der Blick auf das Exosystem auch ein Korrektiv zum Individualismus, in dem wir uns vermeintlich bewegen?
CN: Genau, wir meinen immer, wir seien Gestalter unseres eigenen Lebens, doch schlussendlich ist es auch entscheidend, in welchem Raum ich sitze, welche Kleider ich trage … es gibt so vielfältige Einflüsse auf unser Sein und unsere Entwicklung, die wir oft unterschätzen.
Auch das hängt mit «besser» zusammen?
CN: Unbedingt, wenn man über «besser» redet, muss man notwendig systemisch denken. Menschen können nur besser werden, wenn sie in einer Umwelt leben, die sie fördert. Zum Abschluss ein Beispiel: Bei jugendlichen Straftätern sind massive Schwierigkeiten in der Emotionsverarbeitung und -erkennung in einem Hirnscan nachweisbar. Sie können weniger Empathie empfinden. Wenn sie nun in einem System sind, das nur mit Härte agiert, werden sie nicht besser, ihre Empathie wird sich nicht entwickeln. Wenn sie jedoch auf ein System treffen, die diese Kompetenz fördert, können sie tatsächlich besser werden: ihre Fähigkeit zur Empathie entwickeln und entsprechend handeln.
Christine Neresheimer studierte nach ihrer Ausbildung zur Primarlehrerin Psychologie und Pädagogik. Während mehreren Jahren arbei-
tete sie als Schulpsychologin und erwarb berufsbegleitend den Fachtitel Kinder- und Jugend-
psychologin. Nach verschiedenen Stationen an der PHZH, u.a. als Dozentin, leitet sie aktuell die Abteilung Primarstufe. Ihre Dissertation zum Thema Erziehungsstile bei Vätern an der Universität Zürich schliesst sie im Sommer ab.
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