Von Dagmar Fenner
Das Kontinuitätsargument ist unter Befürwortern neuer und insbesondere auch technologischer Anthropotechniken sehr beliebt. Es beweist allerdings noch lange nicht, dass sämtliche Formen der Selbstoptimierung tatsächlich Verbesserungen darstellen. Denn Menschen können sich täuschen und vermeintliche «Verbesserungen» können sich als «Verschlechterungen» herausstellen. Um Veränderungen als Verbesserungen oder Verschlechterungen einstufen zu können, müssten zuerst Beurteilungskriterien oder Wertmassstäbe benannt werden.
Die theoretischen Zielvorstellungen und praktischen Methoden der Selbstverbesserung haben sich im Laufe der Geschichte stark gewandelt. Grob vereinfacht war für die Menschen der Antike der Zielzustand in der teleologischen Ordnung der Natur vorgegeben, und alle Massnahmen sollten nur das vollenden, was in der Natur angelegt ist. Auf diese Vorstellung immanenter Zwecke in der Natur folgte im Mittelalter der Glaube an die vollkommene göttliche Schöpfungsordnung. Auch wenn die gottgewollte Vollkommenheit erst dank göttlicher Gnade im Jenseits erreichbar ist, sollen die Menschen die Abweichung infolge der Ursünde vorwiegend mit geistigen und religiösen Anstrengungen so weit wie möglich schon im Diesseits abschwächen.
In der Aufklärung setzte sich das Streben nach Perfektionierung als umfassendes Denk- und Lebensmodell durch. Der Mensch wurde einerseits erkannt als veränderbares und erziehbares Wesen, andererseits zugleich als mangelhaft und verbesserungswürdig. Kant zufolge hat der Mensch geradezu eine moralische Pflicht, seine leiblichen, seelischen und geistigen Kräfte zu vervollkommnen. Als die Vorstellungen von einer Naturteleologie oder göttlichen Ordnung an Bedeutung verloren, mussten die Eingriffsmöglichkeiten nicht länger hinsichtlich traditioneller Orientierungsvorgaben legitimiert werden. In der Folge war aber immer weniger klar, nach welchen normativen Kriterien denn eigentlich «Verbesserungen» von «Verschlechterungen» zu unterscheiden sind.
In der gegenwärtigen Kontroverse zum gesellschaftlichen Selbstoptimierungstrend haben sich vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund zwei oppositionelle Lager herausgebildet: Konservative Kritiker treten für die Bewahrung von Tradition, Schöpfung und menschlicher Natur ein. Sie appellieren an eine Haltung der Ehrfurcht und Demut gegenüber der natürlichen Ordnung. Das eigene Leben und die persönlichen Fähigkeiten und Talente sollen dankbar als Geschenke angenommen statt als etwas zu Formendes betrachtet werden. Skeptisch wird das gegenwärtige Optimierungsstreben als gesellschaftlicher Perfektionszwang oder -wahn beargwöhnt, sodass «besser» bis zur weiteren Prüfung erst einmal als «schlechter» gewertet wird. Gewarnt wird vor einer «Entmenschlichung» sowie dem drohenden «Verlust des Menschseins» oder der «Menschenwürde». Offen oder verdeckt steht dahinter häufig die christliche Überzeugung, die sich technologisch perfektionierenden Menschen würden ihren Ort in der göttlichen Schöpfung gründlich missverstehen und wollten Gott spielen.
Liberale Vertreter aus dem gegnerischen Lager werfen den biokonservativen Kritikern vor, mit suggestiven und stark emotional aufgeladenen Begriffen wie «Würde» oder «Natur» und diffusen pessimistischen Zukunftsperspektiven die Diskussion unnötigerweise zu dramatisieren. Denn der Mensch hat sich als das einzige nicht-festgestellte Tier im Laufe der natürlich-biologischen und kulturellen Evolution so stark gewandelt, dass die Idee einer feststehenden «Natur» des Menschen als unhaltbar und die Rede vom «Verlust» des Menschseins oder des menschlichen Selbstverständnisses als reichlich übertrieben erscheinen. Angesichts wandelbarer kultureller Menschenbilder und Wertvorstellungen entpuppt sich die anthropologische Frage «Was ist der Mensch?» als die ethische Frage «Was soll der Mensch sein?». Auch ist das traditionelle christliche Kontingenzargument mit dem Generalverdacht gegen das Streben nach mehr Gesundheit, Lebensqualität und Glück mittels medizinischer Fortschritte rational nicht mehr vermittelbar. Denn der Glaube an eine sinnvolle göttliche Schöpfung kann nicht mehr allgemein vorausgesetzt werden. Christliche Grundeinstellungen wie die Ehrfurcht vor dem Leben, der Topos vom Leben als Geschenk Gottes oder das Verbot, Gott zu spielen, helfen in der Debatte nicht weiter. Sie bieten keine Kriterien zwischen konkreten ethisch erlaubten und verbotenen Eingriffen in die Natur und vermögen viele nichtreligiöse Menschen ohnehin nicht anzusprechen.
Um jenseits des misslichen Lagerdenkens in einem dringend erforderlichen gesellschaftlichen Diskurs normative Bezugsgrössen für die Bewertung von «besser» und «schlechter» bestimmen zu können, müssen folgende Dimensionen unterschieden werden: Aus einer individualethischen Perspektive kommt als genereller Bewertungsmassstab für «Verbesserungen» nur das Glück oder gute Leben der sich optimierenden Personen infrage. Allerdings sind auch individuelle Glücksvorstellungen kulturell geprägt und kritisierbar, etwa die vielen oberflächlichen Versprechungen des schnellen Glücks wie beispielsweise durch Schönheitsoperationen, Glückscoaching oder das Schlucken von Glückspillen. Diskutiert werden aber in der Selbstoptimierungsdebatte auch objektive «Güter» oder Strebensziele, die für das gute Leben aller Menschen unabhängig von individuellen Lebensplänen bedeutsam sein sollen, z.B. Gesundheit, Intelligenz oder Selbstdisziplin. Aus einer sozialethischen oder moralischen Perspektive handelt es sich dann um «Verschlechterungen», wenn die Solidarität mit «unperfekten» Menschen abnimmt oder diese diskriminiert werden. Oder dann, wenn sich nur noch finanziell Bessergestellte bestimmte Selbstoptimierungstechnologien leisten können und sich dadurch die soziale Ungerechtigkeit verschärft.
Dagmar Fenner ist Titularprofessorin für Philosophie an der Universität Basel und Autorin zahlreicher Bücher über Ethik. Letztes Jahr erschien von ihr «Selbst-
optimierung und En-
hancement. Ein ethischer Grundriss» (UTB 2019).
www.Ethik-Fenner.de
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