Normalerweise, wenn ich eine Kolumne schreibe, dann geht das so: Thema fassen, Ideenmaschine anwerfen. Irgendwann, wenn es eigentlich gerade überhaupt nicht passt, einen Geistesblitz haben. Die Spiegeleier auf dem Herd anbrennen lassen. Dafür die ersten Sätze ins Notizprogramm getippt. Dieses Mal ging das nicht. Distanz. Vor einem Jahr hätte ich dabei an etwas komplett anderes gedacht. Vielleicht hätte ich eine Kolumne darüber geschrieben, wie sich Dinge aus der Distanz betrachtet klarer zeigen. Wie die Emotionen nachlassen. Und dafür einer beschwingten Zuversicht Platz machen, die einem ins Ohr flüstert, dass eigentlich alles gut ist.
Dieser Tage wird das Flüstern übertönt von den Sirenen, die von der Strasse herunter heulen. Von Rattern der Rettungshelikopter, die nachts unsichtbar durch den Hochnebel in Richtung Universitätsspital fliegen. Natürlich. In einer Stadt, da rattert und heult es. Doch ich frage mich, ob das jetzt noch in einem normalen Bereich ist. Aber was ist schon «normal» dieser Tage? Manchmal denke ich an ein Bild, dass ich in der Zeitung gesehen habe. Es zeigt eine alte Dame, die ihren Sohn umarmt. Sie, zart und gebückt. Er wie ein mächtiger Baum. Einige lichtsilberne Strähnen fallen über die Laschen des obligaten Mundschutzes, der ihr Gesicht bis unter die geschlossenen Augen bedeckt. Getrennt werden die beiden von einem dicken Schutzanzug aus Plastik. Wie muss das wohl sein? Ich frage mich, ob sie seinen Herzschlag trotzdem spüren kann. Die Wärme seiner Haut. Manchmal sind es zufällige Bilder, die zu Ikonen einer Zeit werden. Weil sie etwas sichtbar machen, dass uns bewegt. Und ich wünsche mir, dass die Mutter ihr Kind noch einmal richtig in den Arm nehmen kann.
Seraina Kobler ist 1982 in Locarno geboren. 2017 gründete Sie die Agentur Federa, wo sie als Autorin, Beraterin und Lektorin tätig ist. Seraina Kobler studierte Kommunikation und Literarisches Schreiben und arbeitete über mehrere Jahre als Redaktorin bei verschiedenen Zeitungen. Ihr erster Roman «Regenschatten» erschien im September 2020.
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