Von Stephan Hagenow
In 1Kor 7,14 entwickelt Paulus eine interessante Denkfigur, die mein Doktorvater Klaus Berger als «offensive Reinheit» bezeichnet hat: «Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durch die Frau, und die ungläubige Frau ist geheiligt durch den gläubigen Mann. Sonst wären eure Kinder unrein; nun aber sind sie heilig». Der ehemalige Phärisäer Paulus ringt mit den Reinheits- und Heiligkeitsvorstellungen seiner Zeit. Er schafft sie nicht ab, sondern deutet sie um. Für die ersten Christen war «social distancing» ein enormes Problem im Alltag. Juden und die frühen Christen, die sich noch ganz im Umfeld der Synagoge bewegten, konnten auf dem Markt nicht einfach einkaufen gehen, nicht mit Nichtjuden zusammen essen oder ausserhalb der Religionsgemeinschaft heiraten. Diese religiös begründete soziale Distanz ist eine der Wurzeln für den antiken Antijudaismus. Die strengen Regeln wurden als ausgrenzend empfunden und als Zeichen fehlender Toleranz gedeutet. Für die meisten Römer und Griechinnen war es selbstverständlich, dass sie in mehreren kultischen Vereinen Mitglied waren, unterschiedliche Tempel besuchten und Rituale pflegten. Auch Paulus wird gefragt, ob Christen Götzenopferfleisch essen dürften, obwohl es einer anderen Gottheit geweiht war. Oder in 1Kor 7, wie man damit umgeht, wenn Christen Nichtchristinnen heiraten. Im Galaterbrief sind die Spannungen zwischen Juden- und Heidenchristen deutlich zu spüren. Paulus, Jakobus und Petrus streiten sich darüber, wie man in dieser neuen Gemeinschaft aus Juden und Heiden leben soll. Auch hier entzündet sich die Frage am Essen und an der Beschneidung als Identitätsmerkmal.
Mit der Konversion war eine neue soziale Rolle verbunden. Es geht um mehr als um eine Hinwendung zu einem neuen Glauben. Schon im Umfeld der Synagogen gab es die «Gottesfürchtigen» (Apg 13,43 sebomenoi / Proselyten). Der gesellschaftliche Status verändert sich durch die Aufnahme in eine neue Gemeinschaft. Es finden automatisch neue Abgrenzungen statt. Ich habe das in Indien erlebt. Wer Christ wurde, musste die Familie verlassen und einen neuen Namen annehmen. Gemeinsames Essen, Trinken und Feiern war nicht mehr möglich. Viele konvertierten deshalb heimlich zum Christentum. In der Logik des Hindu-Nationalismus brauchten die konvertierten Christen nun auch keine staatliche Unterstützung mehr, weil sie ja jetzt durch die neue Gemeinschaft getragen wurden. Kein Wunder, konvertierten deshalb ganze Familien und Dörfer.
Zurück zu Paulus: Er deutet die traditionellen Reinheitsvorstellungen um und folgt damit Jesus. Nicht die Unreinheit des heidnischen Partners ist ansteckend, sondern die neue Identität hat Folgen für die heidnische Partnerin. Es geht nicht mehr um die Kategorien von Abgrenzung und Vermeiden, sondern darum neu zu definieren, was verbindet. Die klassischen kultischen Kategorien werden nicht in Frage gestellt, aber Jesus und Paulus suchen nach der Nähe Gottes, die wirklich trägt, heilt und erlöst. Genau deshalb geht Jesus in den Evangelien auf die Marginalisierten und Ausgegrenzten zu und überwindet das «social distancing» der Gesellschaft. Er überwindet durch Heilung und Exorzismen die äussere Unreinheit der Kranken. Die Taufe reinigt und begründet die Aufnahme in eine neue Wirklichkeit. Und zugleich macht Paulus klar, dass auch die neue Gemeinschaft befleckt und verunreinigt werden kann (1Kor 5–6). Faszinierend finde ich, dass diese durch die Taufe neu gewordenen Menschen sich eben nicht mehr distanzieren müssen, sondern andere anstecken können mit ihrer Heiligkeit, mit ihrer Nähe zur Quelle des Lebens.
Womit stecken wir die Distanzierten heute an, die rund 40 Prozent unserer Kirchenmitglieder ausmachen? Womit unsere Verächter? Soziologen erklären uns, dass wir sie nicht vereinnahmen dürfen, weil sie eben nicht zu nahe am Feuer stehen wollen. Senden wir aus sicherer Distanz christliche Reiki-Segensstrahlen in der leisen Hoffnung, dass sie doch noch kommen? Wo sind wir in der Volkskirche offensiv und erzählen so spannend von der Nähe Gottes, dass sich andere angezogen fühlen? Wo überwinden wir soziale Grenzen in den Gemeinden, wenn wir nur noch zweieinhalb Milieus ansprechen? Heute regt sich niemand mehr auf, wenn Reformierte Katholiken heiraten oder umgekehrt. Aber wenn Pfarrerinnen einen Juden oder einen Muslim heiraten, müssen sie sich immer noch viele Fragen stellen lassen. Umgekehrt – wo bewahren wir unsere Gemeinschaft vor «Befleckung» (2Kor 7,1)? Dürfen wir AFD-Vertreter, die offen islamophobe und rassistische Parolen vertreten, oder Befürworterinnen der Judenmission ausschliessen, wie es der deutsche Kirchentag tut? Müssten wir nicht ganz selbstbewusst für unsere Überzeugungen einstehen, statt uns ängstlich abzugrenzen?
Auch in den heutigen Diskussionen um Sexualität und neue Formen von Partnerschaft könnten wir vom Konzept der offensiven Reinheit lernen. Diese Lebensformen sind nicht bedrohlich für die christliche Gemeinschaft oder die Ehe. Entscheidend ist die Nähe Gottes – wer nur auf Vermeidungs- oder Distanzierungsstrategien setzt, fällt hinter die neutestamentliche Umdeutung der kultisch-sozialen Reinheitsvorstellungen zurück. Die Missionskraft und Attraktivität des frühen Christentums begründen sich vor allem in ihrer Integrationskraft und im Überwinden sozialer Grenzen, die zugleich zum Markenkern wurden – auch wenn bald neue Ausgrenzungen stattfanden, nachdem das Christentum Staatsreligion wurde. Vielleicht lohnt es sich in einer schwindenden Volkskirche wieder, sich auf die offensive Integrationskraft des christlichen Glaubens zu besinnen. Konzentrieren wir die Kräfte darauf, anstatt uns in Rückzugsgefechten, Abgrenzungen oder in der Verteidigung alter Privilegien zu verlieren. Mit welchen Werten wollen wir die heutigen Distanzierten ausserhalb unseres Kirchensteuerregisters infizieren? Wo sind wir aufgerufen zu heilen und menschliche Abgrenzungen zu überwinden? Gottes Nähe ist hochgradig ansteckend!
Stephan Hagenow ist Pfarrer und Leiter Personalentwicklung Pfarrschaft der Reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn
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