MAGAZIN BILDUNGKIRCHE 3/14 - FREMD
Wie spätestens seit der genaueren Erforschung der Ugarit-Texte und vieler archäologischer Funde aus Israel und Palästina unübersehbar wurde, teilten das Alte Israel und Juda sehr vieles in Kultur und Religion mit den anderen Kulturen und Völkern der Levante und des Alten Orientes. Dieser Kulturraum gehört längst der Vergangenheit an und ist uns im Abendland fremd. Aber gleichwohl gehören die Texte des Alten Testamentes, diese Zeugnisse einer fremden Welt und Kultur, zum unverzichtbaren Traditionsgut des christlich geprägten Abendlandes. Manche dieser eigentlich so fremden Texte sind prägend geworden, in Literatur, Kunst und Musik, wo sich diese mit biblischen Traditionen auseinandersetzen. Es sei hier nur an Figuren wie Abraham, Mose oder David erinnert. Und sogar die postmoderne Werbung spielt mit den Urbildern von Adam, Eva und dem berühmten Apfel. Die Beschäftigung mit dem – eigentlich fremden – Alten Testament ist also nicht nur eine interessante Beschäftigung für Historiker und Archäologen, sondern sie dringt zu entscheidenden und faszinierenden Weichenstellungen für die jüdische und christliche Glaubensgeschichte, für das Welt- und Menschenbild überhaupt vor. Und das ist faszinierend.
DER FREMDE JHWE
Um beim Stichwort fremd zu bleiben: Es fängt damit an, dass die neuere archäologische und religionsgeschichtliche Forschung deutlich gezeigt hat, dass der biblische Gott JHWH kein eingeborener Jerusalemer war, sondern aus den midianitischen Stammesgebieten östlich der Sinaihalbinsel in das spätere Israel «eingewandert» ist und über Jahrhunderte neben anderen Gottheiten verehrt wurde. Dabei wurde dieser – eigentlich fremde – JHWH zum Nationalgott Israels und schliesslich zum alleinigen Gott einer monotheistischen Schriftreligion, des Judentums und in der Folge der Christenheit.
Dieser glaubensgeschichtliche Prozess stellte aber auch das Volk des Alten Testaments vor neue Herausforderungen: War es lange ein Volk unter anderen Völkern des Vorderen Orients gewesen, so fand es sich in der Perserzeit als ein Volk in der Zerstreuung wieder.
DAS GOTTESVOLK UND DIE FREMDEN
Was bedeutet es, als erwähltes Gottesvolk unter den Völkern zu leben? Faszinierend ist es, diese Debatte im AT selbst zu beobachten, wenn etwa in der frühpersischen Zeit einerseits die Forderung nach einem Verbot und der Auflösung von Mischehen gestellt wird (Esra, Nehemia), zur gleichen Zeit aber andererseits im Büchlein Ruth nicht nur eine tapfere und gottesfürchtige Moabiterin porträtiert, sondern sogar noch dem Dynastiegründer David eine ausländische Grossmutter verpasst wird.
Das alttestamentliche Ringen um das Gottesbild – oder genauer die Gottesbilder – und damit verbunden das Ringen um die eigene Identität sowie das Ringen um die Grenze zwischen Gottesvolk und den Völkern ziehen sich wie ein roter Faden durch die Texte des Alten Testamentes. Dabei finden sich durchaus auch befremdliche Positionen in den Texten, etwa wenn die – mutmasslich frühnachexilische und deuteronomistisch geprägte – Redaktion der Landnahmeerzählungen in einem fiktiven Rückblick Josua das verheissene Land erobern und von allem Fremden säubern lässt –, die Erinnerungen an die ethnischen Säuberungen in aktuellen Konflikten lassen solche Erzählungen mehr als nur befremdlich wirken. Doch auch dies gehört zu einer verantwortlichen Beschäftigung mit den Stoffen des Alten Testamentes: Wie lassen sich solche befremdlichen Gewaltphantasien heute theologisch verantwortlich einordnen?
BEFREMDLICHE UND DOCH BEKANNTE ABGRÜNDE
Und so befremdlich manche Texte des AT auch sein mögen, vielleicht ist es eben doch auch gut, dass in ihnen die ganze Fülle menschlicher Lebensfragen und -erfahrungen abgebildet ist, mitsamt allen befremdlichen Abgründen. Gerade so kann dieses fremde und zugleich faszinierende Stück der biblischen Tradition zum Gegenüber in heutigen Glaubensfragen werden. Die neueren Forschungsergebnisse regen dabei dazu an, sich den alttestamentlichen Texten mit neuen Fragestellungen und Perspektiven zuzuwenden und zwischen Faszination und Befremden neue Entdeckungen zu machen. Und sie regen an, sich immer wieder neu zu fragen, wer eigentlich wem und inwiefern fremd sei – so wie dies das Alte Israel auch immer wieder tun musste.
Stefan Wälchli ist Privatdozent für Altes Testament an der Universität Bern und Pfarrer in Worb BE. Stefan Wälchli habilitierte in Bern mit der Schrift «Gottes Zorn in den Psalmen - Eine Studie zur Rede vom Zorn Gottes in den Psalmen im Kontext des Alten Testamentes und des Alten Orients».
Buchtipps:
Bernhard Lang: Jahwe,
der biblische Gott.
Ein Portrait. C.H. Beck, München 2002.
Othmar Keel: Die Geschichte Jerusalems und die Entstehung des Monotheismus.
Göttingen 2007.
Literaturtipp:
Michael Frost nimmt sich dieser Frage in seinem 2006 erschienenen Buch Exiles – Living Missionaly in a Post-Christian Culture (Baker Books) an.
Zum Thema Gewalt: Gerlinde Baumann, Gottesbilder der Gewalt im Alten Testament verstehen, Darmstadt 2006.
Kurstipp:
Maria, Moses & Noah: Spurensuche im Kino. Biblische Heldinnen und Heroen im Film. 26.– 28.5.2015.
www.bildungkirche.ch