MAGAZIN BILDUNGKIRCHE 3/14 - FREMD
Matthias Bachmann: Gibt es Orte in Winterthur, an denen Sie sich fremd fühlen?
Rolf Heusser: Nein, aber ich bin ja auch ein spezieller Fall. Ich kenne alle Ecken und kann sie einordnen. Winterthur hat aber auch keine wirklichen Un-Orte. Klar, es gibt Leute, für die ist der Bahnhof spätabends ein Un-Ort: So viele Jugendliche, die Lärm machen, und Abfall liegt herum. Für andere sind die Industrieareale ein Un-Ort.
Und an solche Un-Orte verfrachtet man das Fremde gern: den Jugendtreff, die Asylantenunterkunft, …
Genau, man steckt die Jugend in Keller oder in Industriezonen oder an den Rand der Stadt. Da stören sie nicht. Andererseits finden Eltern das dann wieder problematisch, weil es dort dunkel ist. Man weiss nicht genau, was dort passiert. Die Kontrolle geht so also auch verloren. – Aus Sicht der Fachwelt ist eigentlich klar: Man muss einen Jugendtreff mitten drin platzieren, vielleicht sogar in einer Konfliktzone, wo Reibung entsteht, wo aber auch gegenseitige soziale Kontrolle stattfindet. Aber die Politik wählt lieber sturmfreie Zonen.
Was passiert im Idealfall, wenn man die Reibungen forciert?
Die Leute merken, dass alle zur Gesellschaft gehören. Nur mit Menschen, die im öffentlichen Raum präsent sind, muss man sich auseinandersetzen. Das gilt für arme Menschen, für Asylanten und für Jugendliche. Sie gehören zu unserer Gesellschaft, darum müssen sie sichtbar sein. – So sieht das jedenfalls die Fachwelt. Die Politik will Probleme lieber rasch lösen und aus der Welt schaffen. So entstehen Ghettos.
Ihre Arbeit besteht darin, die Politik von den Einsichten der Fachwelt zu überzeugen. Wie machen Sie das?
Ich erzähle Geschichten von Szenen und von Menschen. Und dann versuche ich zu zeigen, dass es nachhaltiger ist, sich mit diesen Menschen zu beschäftigen, als sie auszugrenzen. Ein Beispiel aus der Freiraum-Thematik: Winterthur hat sich vor einigen Jahren dazu durchgerungen, alle Schulhausreale für öffentlich zu erklären. An vielen Orten passiert heute das Gegenteil: Um die Anlagen wird ein Zaun gezogen, der Abwart bekommt einen Hund zur Bewachung. Winterthur lässt die Menschen am Wochenende und an den Abenden aufs Areal. Nun könnte man sagen, dass sich die Stadt dadurch ein Problem eingehandelt hat. Am Montag liegen dann halt ein paar Fötzeli herum. Schlussendlich sind diese Menschen aber sowieso irgendwo, nur hat man so mehr Lebensqualität und zufriedenere Menschen.
In Winterthur-Hegi ist in den letzten Jahren auf einem ehemaligen Industrieareal ein gigantischer neuer Stadtteil entstanden. Sie waren eng in diese Entwicklung involviert. Wie lief das ab?
Ich hatte die Stabstelle für soziale Stadtentwicklung inne. Dadurch war ich in der departement-übergreifenden Stadtentwicklungskommission vertreten. Auch drei Stadträte sassen in dieser Kommission. Wir beschlossen, für das ganze Neu-Hegi-Gebiet eine umfassende Strategie zu entwickeln. Das Ziel war eine Mischung aus Wohnen und sauberen Technologien. Neu-Hegi hat ein Potential von zirka 4000 neuen Einwohnern und 10’000 Arbeitsplätzen. Der Deal sah damals so aus, dass der Sulzer-Konzern dichter bauen durfte als vorgesehen. Dafür gab er ein grösseres Stück Land an die Stadt ab, auf dem dann mitten in diesem neuen Quartier der Eulach-Park entstehen konnte.
Dieser Park ist heute ein Vorzeigeprojekt für Quartier-Integration. Wie kam das?
Die Gestaltung des Parks war Sache der Stadtgärtnerei. Die Stadtgärtnerei pflegt eine sehr fortschrittliche Haltung. Dort arbeiten Landschaftsplaner und Spielraumgestalter, die den Park möglichst offen und multifunktional gestaltet haben. Man darf einen solchen Ort nicht übermöblieren, und man muss Aneignungen zulassen. Es gibt im Park diese kleinen Hügel, die nicht clean bleiben müssen. Die Kinder können mit Velos Furchen reinfrässen, das ist ok.
Welche Rolle kann die Kirche in der sozialen Stadtentwicklung spielen?
Ein Beispiel: In Oberwinterthur verkehren im kirchlichen Jugendtreff auch muslimische Kosovo-Albaner. Das ist einer der Jugendtreffs, die am besten funktionieren. Wichtig ist, dass die Kirche nicht kopfscheu wird und sich aufs sogenannte Kerngeschäft zurückzieht, sondern ihren diakonischen Auftrag offen auslegt. – Das zweite Lehrreiche in Oberwinterthur ist, dass diese Kirchgemeinde darauf achtet, was im Quartier abgeht. Sie sind am Puls. Deshalb waren sie so früh präsent in Neu-Hegi. Sie beobachteten, und dann improvisierten sie pionierhaft: Sie mieteten eine Wohnung und richteten dort den ersten Quartiertreff ein. Sie waren vor der Stadt da!
Die Milieustudie hat den Kirchen vor Augen geführt, dass sie den meisten Menschen fremd bleibt. Wie könnte sie im urbanen Kontext auf fremde Milieus zugehen?
Kürzlich hat mich die Kirchgemeinde Mattenbach eingeladen. Die Kirche in Mattenbach steht auf der Seite der Einfamilienhäuser und der niederen Genossenschaftsbauten. Hier lebt die Schweizer Mittelschicht. Dann kommt die lange Tösstalstrasse. Auf der anderen Strassenseite leben die Leute mit tiefen Einkommen und hohem Migrationsanteil. Dort besteht aus stadträumlicher Sicht ein klarer Mangel an Räumen für Gemeinschaftliches. Die Kirchgemeinde hat solche Räume. Sie könnte nun die Fühler ausstrecken, für das ganze Gebiet sozialräumlich denken. Sie könnte rausgehen, in Kontakt kommen mit diesen Leuten und hören, was sie brauchen. Das ist eine echte Herausforderung für eine Kirchgemeinde! Die Mattenbacher nahmen sie sehr offen auf.
Rolf Heusser, Jahrgang 1950, hat die Stadt Winterthur in den vergangenen 25 Jahren in den verschiedensten Funktionen und Projekten geprägt. Er war Jugenddelegierter der Stadt und Stabsmitarbeiter bei Stadtentwicklungsprojekten; er ist Mitverfasser
der Leitbilder für Jugendarbeit und städtische Integrationspolitik; er
leitet das Projekt eines Programmkinos, das 2015 eröffnen wird. Seine ersten Führungserfahrungen sammelte er als Verbandssekretär des Cevi-
Regionalverbands Zürich Schaffhausen Glarus.