MAGAZIN BILDUNGKIRCHE 3/14 - FREMD
Ich war hoffnungsvoll gestimmt, als ich mich Ende 2011 an der Toronto School of Theology bewarb. Doch gleichzeitig schätzte ich meine Chancen eher gering ein, handelt es sich bei dieser Schule doch um die grösste und renommierteste theologische Einrichtung Kanadas. Bestimmt gab es massenhaft qualifizierte Bewerber und Bewerberinnen. Es musste wohl meine Ehrlichkeit gewesen sein, welche die Leitungsgremien der Schule beeindruckt hatte. Einfach so ein One-Way-Ticket zu lösen, das war schon irgendwie unheimlich und spannend zugleich. Weit weg von Familie und Freundeskreis. Werde ich zu Diskussionen beitragen, dem Unterricht folgen können? Kann ich überhaupt Seminararbeiten auf Englisch verfassen? Hatte ich mir mit dem Gang in die Fremde mehr zugemutet, als ich tatsächlich zu tragen vermochte?
Glücklicherweise trat keine meiner schlimmsten Befürchtungen ein. Wie schnell und problemlos man sich veränderten Gegebenheiten anpassen kann, mag teilweise eine Frage der Persönlichkeit sein. Aber Toronto ist ja nicht mitten im Nirgendwo, nicht völlig fremd und komplett anders. Doch diese Herausforderungen verblassten angesichts inhaltlicher Ansprüche. Das Theologiestudium in Zürich hatte mich mit dem wohltuenden Gefühl ausgestattet, zu wissen, wie Theologie richtig und korrekt zu betreiben sei. Diese Grundhaltung meinerseits wurde in Toronto nicht nur herausgefordert, sondern systematisch ruiniert. Und dafür bin ich dankbar, auch wenn es ein schmerzhafter Prozess war. Irgendwie hatte ich es mir angewöhnt, zu glauben, dass es so etwas wie objektive Theologie gab, deren Erkenntnisse auf allgemeingültigen Kriterien beruhten. Ich glaubte, dass es Kriterien und Methoden geben würde, die überall gültig zu sein haben. Solch einem Glauben begegnet man in Toronto mit grosser Skepsis. Hier herrscht die Ansicht, dass Theologie abhängig ist von Kontext und Person. Die
alles entscheidende Frage ist: Wer betreibt Theologie in welchem Umfeld, und was bedeutet das für Auslegung und Lehre? Wo wir herkommen, welcher Kultur und Gesellschaftsschicht wir angehören, bestimmen massgeblich, wie wir Theologie betreiben. Eine bewusste Vielfalt der Lesarten biblischer Texte sowie der daraus resultierenden Theologien wird in Toronto gefordert und gefördert. Befreiungstheologische, feministische oder auch schwullesbische Zugänge (Queer Theology) repräsentieren hier nicht Minderheitentheologien, sondern gehören zum Mainstream. Angesichts solcher Gegebenheiten kann Diversität und kontextuelle Kolorierung theologischen Denkens nicht von der Hand gewiesen werden: Es macht eben sehr wohl einen Unterschied, ob man nun vor dem Hintergrund Seouls, Kapstadts oder Zürichs Theologie betreibt. Und was von Dozenten freiheraus gepredigt wird, ist in Kanada sichtbarer Bestandteil des universitären Betriebes an den theologischen Fakultäten: dass die Zukunft des Christentums nicht etwa in Europa oder Nordamerika, sondern im globalen Süden liegt.
In der Fremde sah ich mich urplötzlich mit dem Befremdlichen fremder Theologien konfrontiert. Dabei hatte ich bisher doch geglaubt, Theologie müsse überall nach denselben oder zumindest ähnlichen Massstäben und Prinzipien funktionieren. Das Fremde wirft ja auch stets ein erhellendes Licht auf das Bekannte. Durch das Andere wird das Eigene noch viel bewusster wahrgenommen. Und zu dieser vertieften Wahrnehmung gehörte es auch, dass ich meine eigene Theologie als kontextgebunden zu verstehen begann. Das behagliche Eigene so plötzlich in der Ferne durch das Fremde herausgefordert zu erleben, das war schon eine Erfahrung an und für sich. Anfangs begegnete ich dieser Relativierung des mir Bekannten mit Argwohn und Misstrauen. Nur zu gerne hätte ich daran festgehalten, meine bisherige Sichtweise in wohltuender und schützender Art und Weise als das Absolute und Objektive zu verklären. Die Konfrontation mit radikal anderen Perspektiven und Interpretationen lehrte mich wohl auch die Demut, das Eigene nicht zu überhöhen. Und ein wenig Demut kann ja nie schaden. Schon gar nicht auf dem Weg ins Pfarramt.
WEITERLESEN:
Francesco Cattani, Jahrgang 1983, ist in Thalwil aufgewachsen und studierte Theologie in Zürich und Toronto. Seit seiner Rückkehr in die Schweiz im August 2014 befindet er sich auf
dem Weg ins Pfarramt und absolviert das Lernvikariat des Konkordats.
Toronto School of Theology www.tst.edu, Emmanuel College (mein «Heimatcollege»): www.emmanuel.utoronto.ca
Literaturtipp: Bevans, Stephen B. 2002. Models of Contextual Theology
(Faith and Cultures Series).
New York: Orbis Books.
Website Queer Theology: www.queertheology.com