Sonntagmorgen. Das Quartier Hottingen wirkt ausgestorben. Ich will eine Versammlung der Zürcher Quäker besuchen und bin zu früh. Der Sigrist öffnet mir den Raum. Dann kommen sie langsam, das knappe Dutzend Freunde, wie sie sich auch nennen. Sie räumen die Tische zur Seite, bilden einen Stuhlkreis. Jemand gestaltet am Boden eine Mitte: auf einem Deckchen Bibel, Kerze, Mohnblumen. Wir setzen uns. Zwei tauschen noch flüsternd ein paar Worte aus, dann ist Stille. Mit der Zeit wird mir klar: die stille Andacht hat begonnen. Kein Ritual schafft den Übergang zwischen Alltag und gottesdienstlicher Zeit. So sitzen wir – 55 Minuten lang. Ich weiss aus der Literatur, dass vielleicht jemand aus der Runde – aus einer inneren Eingebung heraus – das Wort ergreifen wird. Nichts passiert. Zum Schluss geben sich alle im Kreis die Hände – das eigentliche Meeting ist vorbei. Nach einer kurzen Vorstellungsrunde geben einige ein Votum ab. Die Lage in der Ukraine beschäftigt alle hier. Das Friedensengagement gehört zur DNA einer Gemeinschaft, die 1947 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden ist.
Ich offenbare den Grund für meinen Besuch – ein Artikel zum Thema sprachlos. Dazu meint der Älteste im Kreis bedeutungsschwer: «Sprachlos, ja, aber nicht gedankenlos.» Das bestätigt sich beim anschliessenden Mittagessen. Die meisten in der Runde haben akademische Bildung, viele waren in einer sozialen Tätigkeit engagiert. Auch wenn ihnen Musik und manchmal eine gute Predigt fehlten, schätzen sie die Kargheit der Meetings. Man kann den eigenen Gedanken nachhängen, gemeinsam in die Stille eintauchen, wird wach und empfindsam für das, was in einem und um einen ist. Meeting heisst gemeinsame Suche nach der Begegnung mit Gott. Damit verbunden ist das Fehlen jedweder Dogmatik, so dass ein Freund das Bonmot prägte: «Unsere einzige Dogmatik ist, dass wir keine haben».
Im Gespräch mit Anne Lotte Heyn-Cossalter, Clerk der Quäker-Gemeinde Zürich, zeigt sich: die Form der Meetings ist die spürbarste Spiegelung der Quäker-Theologie. Alltag und Gottesdienst sind eins. In jedem Menschen leuchtet «etwas von Gott». Es kommt unter keinen Umständen infrage, Menschen zu töten. Die Form, die der Kreis in Zürich lebt, entspricht den Gepflogenheiten in der Diaspora. Hier kann es vorkommen, dass sich die Freunde in Privatstuben treffen.Das Wort aus der Stille wird nicht so häufig ergriffen: «Friends, I would like to share something with you». Im angelsächsischen Raum, wo grössere Gemeinden vorkommen, ist ein Vorraum dem Versammlungsraum vorgelagert. Im Vorraum darf gesprochen werden. Älteste begrüssen die Teilnehmenden am Übergang zum Versammlungsraum, wo Stille herrscht.
Natürlich bin ich neugierig, was es mit diesem Wort aus der Stille auf sich hat. Soll ich mir das vorstellen wie jene prophetischen Äusserungen, die in charismatischen Kreisen vorkommen? Ob es nicht doch eine Art Gruppendruck gibt, die Stille mit einem Wort zu brechen? Nichts von all dem, meint Anne Lotte Heyn. «Stille ist auch eine Sprache», in dem Sinne hat die dem Wort folgende Stille genauso viel Wert wie das Wort. Was in Worten nur unzureichend auszudrücken ist, in der Stille begreifbar werden. Die Stille einfach mittragen, ist völlig in Ordnung. Wer das Wort ergreift, dem drängt sich ein Thema auf, das sie oder er spürt, mit den anderen teilen zu sollen. Ein geäussertes Wort geniesst nicht per se Autorität. Treu der Mahnung von Paulus «Prüfet alles, das Gute behaltet» (1Thess 5.21) geben sich die Freunde nach der Versammlung Feedback auf ein geäussertes Wort. Das ist auch eine geistliche Funktion der Ältesten in einer Gemeinde, die unter den christlichen Konfessionen das Priestertum aller Gläubigen am striktesten lebt. Es bestätigt sich immer mehr: Gedankenlos sind die Quäker auf keinen Fall – und mit ihrem Verhältnis zur Stille erstaunlich modern. Zum Glück für die anderen Konfessionen missionieren sie nicht, treu dem Motto: Lasst euer Leben sprechen.
Jacques-Antoine von Allmen, Beauftragter für die Weiterbildung.