Mathias Burri: Was hat Sie bewogen, ins Kloster einzutreten?
Martin Werlen: Die Mönchsregel des heiligen Benedikt. Die ist mir mit 18 zufällig in die Hand gekommen und beim Lesen habe ich gedacht: Das ist mein Leben!
Wie war Ihr Start im Kloster?
Am Anfang war es für mich schwer. Ich war als Jugendlicher zu Hause sehr engagiert und habe das alles hinter mir gelassen. Auf einmal war ich im Klostergarten und habe gejätet. Und da habe ich mich gefragt: Ist es jetzt das? Ich habe dann als Jugendlicher gelernt: Es kommt nicht darauf an, was ich mache, sondern wie ich es tue.
Gibt es im Kloster auch Dinge, die Sie manchmal vermissen?
Wenn wir uns für etwas entscheiden, entscheiden wir uns immer auch gegen vieles andere. Wenn ich zurückblicke: Ich habe mich für etwas entschieden, was mir enorm viel gegeben hat. Mir ist so vieles geschenkt worden. Zum Beispiel jeden Tag Zeit fürs Gebet zu haben. Für viele Menschen ist es schwierig zur Ruhe zu finden. Für uns ist es selbstverständlich. Wir haben abends um 8 Uhr das Nachtgebet, dann habe ich Ruhe. Das ist ein Geschenk. Nein, ich vermisse nichts.
Der Abt entscheidet wirklich, was der einzelne Mönch benötigt?
Die Grösse von Benedikt liegt darin, dass er in jedem Menschen ein Original sieht. Darum kann man nicht alle Menschen gleich behandeln. Gemäss Benedikt muss der Abt schauen, dass jeder erhält, was er braucht. Aber dabei soll der eine nicht neidisch auf den anderen werden. Das ist immer eine Herausforderung. Ich darf nicht den Ansprüchen von Menschen dienen, sondern muss ihn als Original wahrnehmen.
Bestimmt gibt es auch Neid im Kloster.
Klar, das gibt es überall, wo Menschen zusammen sind. Neid ist ja nicht das Problem, dass der andere mehr hat als ich, sondern dass ich nicht das angenommen habe, was mir geschenkt ist. Neidisch ist immer der Mensch, der sich selbst noch nicht entdeckt und das Geschenk von Gott angenommen hat. Das erste Geschenk, das Gott uns gemacht hat, sind wir selbst. In dem Masse, wie ich mich als ein solches Geschenk annehme, kann ich auch andere als Geschenk annehmen. Sonst vergleiche ich mich immer mit anderen.
Ihr bietet in Einsiedeln das Sakrament der Versöhnung an. Welches sind eure Erfahrungen?
Das Angebot wird stark in Anspruch genommen. Jeden Tag sind wir fünf Stunden in der Beichtkirche. Es gibt auch viele, die ausserhalb der öffentlichen Beicht-Zeiten kommen. Und es gibt auch einige, die persönlich zu mir kommen. Denn da es oftmals auch sehr persönliche Themen sind, braucht es Vertrauen.
Kommt Neid in der Beichte vor?
Wenn das jemand zur Sprache bringt, dann ist das für mich immer eine Warnlampe, die signalisiert, dass jemand Hilfe braucht, sich selbst anzunehmen. Das Sakrament der Versöhnung ist ein hervorragender Ansatz. Wenn Gott zu mir Ja sagt, warum soll ich dann nicht selbst zu mir Ja sagen? Gerade in den Punkten, in denen ich nicht gut bin. Das ist der Boden: die Dankbarkeit für mich selbst zu entdecken.
Kommen denn auch Reformierte zur Beichte?
Ja, oftmals Menschen, die ich persönlich kennengelernt habe. Die kommen dann zu mir für ein Gespräch.
Das Umfeld und die Kirchen selbst stehen in einem Veränderungsprozess. Einige blicken wehmütig, vielleicht neidisch auf vergangene Zeiten zurück, als die Kirchen viele Mitglieder und grossen Einfluss in der Gesellschaft hatten.
Jetzt bin ich etwas provokativ: Ich denke, dass wir als Kirchen an etwas kranken, was mit der Konstantinischen Wende ausgelöst wurde. Plötzlich war die Kirche privilegiert, und das bis ins 20. Jahrhundert hinein. Diese Machtposition bricht nun zusammen. Und ich sage: Gott sei Dank!
Vieles ist jedoch heute noch geprägt von der Konstantinischen Wende. Durch die erhaltenen Privilegien sind wir davon ausgegangen, dass die Menschen zu uns kommen. Dabei ist die Kirche nicht für sich selbst da, sondern für die Menschen. Wenn wir die Not der Menschen ernster nehmen würden als das Bewahren unserer eigenen Privilegien, würde es unglaublich Bewegung in die Kirche bringen. Wir hüten noch vieles aus dem 16. Jahrhundert, was eigentlich lange schon vorbei ist. Wir hüten noch unsere eigenen Gärtchen. Das ist uns wichtiger, als den eigentlichen Auftrag zu erfüllen.
Was ist denn die eigentliche Herausforderung der Kirche?
Was uns Sorge machen sollte, ist, dass wir es nicht schaffen, das Evangelium heute in glaubwürdiger Art und Weise zu verkünden. Jesus sagte: «Sie sollen eins sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.» Wir können uns Spaltungen gar nicht mehr leisten. Aber diese Spaltungen beschäftigen uns nicht so. Uns beschäftigt vor allem, dass die Leute nicht mehr kommen.
Gibt es auch so was wie ein Neid der Kirchen?
Die Zeit ist vorbei, um Konfessionsgrenzen zu hüten. Die wesentliche Frage ist für mich heute, wie wir als Getaufte glaubwürdig leben können. Wenn wir jedoch Konfessionsgrenzen hüten wollen, dann ist es gut, dass junge Menschen sich verabschieden. Sie halten uns dann richtigerweise vor Augen, dass es so nicht weiter geht. Das gilt über alle Konfessionsgrenzen hinweg. Denn Kirchen sollten sich nicht als Konkurrenz wahrnehmen, sonst sind wir auf der Ebene des Neids.
Pater Martin Werlen (53) lebt seit knapp 32 Jahren als Benediktiner im Kloster Einsiedeln und war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters. Bekannt ist er auch als Twitterer und Autor. Seine bekanntesten Publikationen sind ‚Miteinander die Glut unter der Asche entdecken‘ und ‚Heute im Blick. Provokationen für eine Kirche, die mit den Menschen geht‘.