Stephan Hagenow: Sie haben eine langjährige Erfahrung als Psychiater in ganz verschiedenen Kontexten. Wie häufig kommen religiöse Fragen in der Praxis vor?
Daniel Hell: Das ist unterschiedlich und hängt von den Patienten, aber auch von den Psychiatern ab. So suchen religiöse Menschen häufiger Psychiater auf, von denen sie annehmen, dass ihre religiöse Überzeugung verstanden wird. Oder sie bringen in Therapiesituationen ihre religiöse Überzeugung nicht zur Sprache, weil sie fürchten, missverstanden zu werden. So sagte eine Patientin letzthin zu mir: Sie habe in Therapien ihre Religiosität ausgeklammert, weil ein Missverstehen in diesem für sie zentralen Punkt die Beziehung zum Therapeuten gefährdet hätte. Für viele andere ist Religion kein Thema. In den USA gehören Fragen zur Religiosität zur psychiatrischen Befunderhebung. In Mitteleuropa wird eine religiöse oder spirituelle Anamnese dagegen seltener erhoben. Darin drückt sich auch die kulturell geprägte Zurückhaltung vieler Psychiater gegenüber religiösen Fragen aus.
Es gibt die statistische Analyse, dass der christliche Glaube mit einer geringeren Depressionshäufigkeit einhergeht. Warum?
Um den Einfluss von Religiosität auf das Depressionsrisiko zu untersuchen, wurden mittlerweile sehr viele Studien durchgeführt. Dabei fanden sich mindestens drei Wirkfaktoren, die in unterschiedlichem Ausmass zur statistisch geringeren Depressionsrate religiöser Menschen beitragen: zunächst ein sozialer Faktor, nämlich die zwischenmenschliche Unterstützung in Kirchgemeinden, dann eine intrinsische Wirkkomponente, nämlich Gottvertrauen im Sinne einer sicheren Bindung an Gott und damit zusammenhängend ein sogenanntes religiöses Coping, womit ein günstiger Umgang mit depressiven Symptomen gemeint ist. Besonders hilfreich ist ein kooperatives religiöses
Coping, nämlich die Überzeugung, dass Gott die eigenen Bewältigungsversuche unterstützt. Zu den am meist geübten und am besten untersuchten religiösen Umgangsweisen mit Depressivität gehört das Gebet.
Können religiöse Werte vom heutigen gesellschaftlichen Erfolgs- und Konformitätsdruck entlasten? Umgekehrt erhöhen bestimmte Glaubensformen das Depressionsrisiko. Welche sind das? Wann wird der Glaube selbst zum Stressor?
Es gibt Hinweise aus Studien, dass z.B. religiöse Studierende eher unkonventionell sind und sich vom Konformitätsdruck etwas besser distanzieren können als ihre Kommilitonen. Manche dürften aber auch besonders leistungsorientiert sein. Belastend wirkt sich vor allem die religiöse Vorstellung eines strafenden oder rächenden Gottes aus. Riskant ist auch die Vorstellung, ein Christ müsse fröhlich sein oder christlicher Glaube schliesse depressives Leiden aus. Dahinter steckt eine gefährliche Instrumentalisierung von Religion. Wenn ein Mensch dann trotzdem in eine Depression fällt, ist die Enttäuschung doppelt. Funktionalisierte Religion funktioniert nicht.
Stimmt der gefühlte Eindruck, dass die moderne Psychiatrie sich eher wieder offen zeigt gegenüber religiösen Empfindungen und sich auch ungenierter als früher bedient aus dem Erfahrungsschatz der Religionen? Stichwort: Spiritualisierung der Therapie.
Ja, unbedingt. Viele religiöse Ansätze und Praktiken werden heute in säkularisierter Form von psychotherapeutischen Schulen übernommen. Dazu gehören Vergebungspraktiken und – am bekanntesten – achtsamkeitsbasierte Therapieformen, die meditative Methoden aus dem Buddhismus praktizieren. Dadurch öffnet sich die Psychotherapie aber nicht unbedingt religiösen Überzeugungen z.B. des Christentums, weil diese Praktiken oft mit einer atheistischen Lehre verknüpft werden.
Wie stark ist der Zusammenhang von krankmachenden Formen der Religiosität und Sexualität?
Religiöse Lehren, die körperfeindlich oder stark schuldinduzierend sind, machen Menschen vor allem in sexueller Hinsicht zu schaffen. Bekannt ist die Onanieproblematik jüngerer Menschen, die sexualfeindlich erzogen wurden. Darüber hinaus erschwert die Tabuisierung von Sexualität die Integration sexueller Bedürfnisse in die Persönlichkeitsentwicklung. Die Abspaltung sexueller Triebe kann affektive Probleme verstärken, vor allem aber zu Hemmungen infolge einer Schuld- und Schamproblematik beitragen.
Hat die institutionalisierte Form von Religion wie eine reformierte Landeskirche überhaupt noch einen Einfluss auf die psychische Gesundheit ihrer Mitglieder, sei es positiv oder negativ?
Ich würde den Einfluss des institutionalisierten Christentums auf die psychische Gesundheit vieler Menschen nicht unterschätzen. Unbestritten ist der diakonische Einsatz für viele benachteiligte und kranke Menschen äusserst wirksam und hilfreich. Auch Seelsorge hat einen hohen Stellenwert und ist durch säkulare Angebote nicht einfach zu ersetzen. Aber Glaubenssätze haben es heute – im Zeitalter der
Individualisierung und technisch-wissenschaftlichen Medialisierung – schwer. Vielleicht sind aber gerade heute christliche Positionen besonders wichtig, um konformen soziokulturellen Tendenzen, die Menschen auch belasten und krank machen können, entgegenzuwirken.
Hat sich Ihr eigenes Gottesbild durch die Arbeit mit den Patienten verändert?
Ich habe in meiner therapeutischen Arbeit gelernt, wie wichtig Beziehungen sind. Nicht, dass ich alles von einem Menschen weiss, ist zentral, sondern dass ich auch dann offen und kongruent auf einen Patienten eingehe, wenn es schwierig ist. Diese psychotherapeutische Einsicht habe ich anthropomorph auf die Beziehung zu Gott übertragen. Ich kenne Gott nicht, ich habe kein Bild von ihm, aber ich suche mich auf ihn zu beziehen. Vielleicht ist es aber umgekehrt so, dass das Geheimnis der Gottesbeziehung zu mir das Primäre ist und ich sie säkularisierend auf meine therapeutische Arbeit übertrage.
Daniel Hell ist Psychiater, Psychotherapeut und Autor. Sein Spezialgebiet ist die Depression. Er vertritt einen ganzheitlichen Ansatz bei der Behandlung psychischer Erkrankungen. www.daniel-hell.com