Was ist fromm, und was verstehen wir darunter? Was lange ein höchst positiver gesellschaftlicher Wert war, klingt heute eher altbacken, hat einen negativen Beigeschmack. Fromm ist brav und folgsam: Wer kennt nicht den Daumenlutscher Konrad aus dem Struwwelpeter: «Bleib hübsch ordentlich und fromm, bis nach Haus ich wieder komm…» Solche Bravheit ist kein Erziehungsideal mehr für heute. Fromm klingt weiter nach Frömmlerei und Bigotterie, überholten Rollenbildern und religiös-ethischen Zwängen – ganz im Gegensatz zum Ideal individueller Freiheit, dem höchsten Gut (oder gar Götzen?) unserer Gesellschaft. Während fromm veraltet klingt, erscheint spirituell interessant.
Das althochdeutsche frum meinte zunächst nützlich (etwas frommt – nützt), aber auch tüchtig und rechtschaffen, es verband sich mit dem Sinn des griechischen eusebeia (Frömmigkeit)oder dem lateinischen pietas – womit zunächst eine Verehrung oder sorgsame Beachtung der Ordnungen des Lebens, das geschuldete, respektvolle Verhalten gegenüber Göttern, Gesetzen, Eltern oder sozial Höhergestellten gemeint war. Dazu gehörten neben ethischen Tugenden auch religiöse Akte wie Gebete und Opfer. In der Neuzeit ist das Wort dann ganz auf die individuelle Frömmigkeit, die praxis pietatis und v.a. die Innerlichkeit des Glaubens bezogen: Fromm sein meint somit Gottesfurcht oder – positiver formuliert – vertrauensvolle Verbundenheit, ja Treue zu Gott und dem Glauben.
Fragen wir hier nach Jesus, dann wird die Sache kompliziert. Denn wie niemand sonst ist Jesus die Projektionsfigur auf die alle ihre eigenen Ideale und Wünsche übertragen haben. Jesusbücher zeigen dies:
Vom apokalyptischen Eiferer und Revolutionär bis zum Pazifisten,
Ökofreak und Vegetarier – alles hat man zum Teil in abenteuerlicher Quellenbehandlung (oder mit modernen Fälschungen wie dem Friedensevangelium der Essener) für ihn behauptet und so mit seiner Person legitimiert und propagiert. Gegen solche Willkür hilft nicht die Haltung schlichter Gläubigkeit, gerade da braucht es die Bibelwissenschaft und die Theologie als kritische Instanz, kritisch gegenüber eigenen und fremden Ideen und Ideologien. Das muss die historische Frage nach Jesus leisten, auch wenn sie naturgemäss nur den Menschen Jesus, soweit er sich aus den Quellen rekonstruieren lässt, ins Blickfeld bekommt.
Inwiefern konnte Jesus als unfromm erscheinen, inwiefern als fromm? Was wissen wir über seine praxis pietatis? Voraussetzen müssen wir, dass er in einem frommen jüdischen Milieu aufwuchs, im dörflichen Obergaliläa, das um die Zeitenwende von einer traditionellen jüdischen Frömmigkeit geprägt war. Eine synagogale Erziehung, eine gewisse Kenntnis der Schriften und traditioneller Gebete und eventuell auch Pilgerfahrten nach Jerusalem zum Tempel sind hier zu vermuten. Insofern war Jesus ein frommer Jude, vertraut mit den Traditionen, mit regelmässigem Gebet, Fasten und Almosengeben. Jene Mitjuden, denen an der Verbreitung und Praxis von jüdischer Frömmigkeit lag, die Pharisäer, standen ihm am nächsten.
Doch verhielt er sich auffällig unkonventionell, ja unfromm. Er begab sich in die Nähe eines Sonderlings, der am Jordan den Vorbeikommenden ins Gewissen redete und einen eigenartigen Tauchritus vollzog. Er sammelte einen Kreis von Anhängern um sich und zog mit ihnen als Nichtsesshafter durch die Dörfer, predigte von Gottes Reich und lebte von der Hand in den Mund. Für die Dorfgesellschaft war das provozierend, für seine Familie offenbar peinlich und inakzeptabel. Seine Mutter und Brüder wollten ihn nach Hause zurückholen, wo genug Aufgaben auf ihn warteten, aber er entzog sich diesem Anspruch der Verwandten (Mk 3,31f.). Gesellschaftlich-religiös-moralische Standards ignorierte er zumindest teilweise: Er hatte keine Berührungsängste gegenüber ansteckend Kranken und pflegte Umgang mit religiös und moralisch zweifelhaften Personen. Die Sexualmoral, die Fromme gerne für das wichtigste Element ihres Glaubens halten, war ihm offenbar deutlich weniger wichtig als die Menschen. In dieser Hinsicht war Jesus unfromm: Er folgte anderen Maximen als von Konvention und religiösen Sitten vorgegeben. Für die, die sich in ihrem Sinne fromm verhielten, hatte er scharfe Kritik.
Andererseits tat er dies nicht aus jugendlichem Radikalismus oder Beliebigkeitsdenken. Vielmehr berief er sich auf Gott, seinen «Vater», er redete aus der Gewissheit der Nähe Gottes, der Verbundenheit mit ihm. Selbst das heilige Gesetz hinterfragte er unter Verweis auf den ursprünglichen Willen Gottes (Mt 19,8). Die Bindung an Gott, die Gewissheit seiner Güte und Fürsorge und seines verpflichtenden Willens standen für ihn über der Bindung an Menschen, Traditionen und Sitten. Das ist seine Frömmigkeit: Gott mehr zu folgen als Menschen – letztlich bis in den Tod. Die Gewissheit, die ihn bewegte, war selbst für seine nächsten Anhänger unverständlich. Jesus war unfromm für die Frommen, und zugleich rückhaltlos fromm zugunsten der Unfrommen. Seine Frömmigkeit fordert heraus, Frommsein neu zu überdenken.
Jörg Frey (*1962) ist Professor für Neues Testament mit Schwerpunkt Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich.