Für die Reformatoren war das Anzünden von Kerzen vor einem Altar oder einer Heiligenstatue Ausdruck einer Werkfrömmigkeit, die sie ablehnten. Zwingli erwähnt das Kerzenanzünden in Kirchen im gleichen Atemzug mit «Weihräuchern, Opfer bringen, Plappergebet und Messgeklingel« und gibt zu bedenken: «Wer will sich denn schon bessern, wenn der Beichtvater dem Sünder nicht das Wort des Heils sagt, sondern ihn anweist, Kerzen und Räucherwerk darzubringen?» Nicht äusserliche Werke zählen für die Reformatoren, sondern allein, dass man Jesus anhängt und seinem Willen gehorcht. Mit dem reformierten Kerzenverbot verhält es sich ähnlich wie mit dem Bilderverbot: Bilder und Kerzen sind nicht an sich schlecht, sondern nur, wenn sie Gegenstand bzw. Ausdruck der Anbetung sind. Die Kerze kommt selbst in der reformatorischen Bildpropaganda vor. Sie dient als Metapher für das Evangelium, zu dessen Licht Christus die Gläubigen führt, während sich die Anhänger der alten Kirche von diesem Licht abwenden. Auch der Leitspruch der Calvinisten «Post tenebras lux» folgt dieser Metaphorik. Selbstverständlich gab es in reformierten Kirchen vor der Einführung des elektrischen Lichts auch richtige Kerzen, die dazu dienten, dem Versammlungsraum der Gemeinde eine festliche Stimmung zu verleihen.
KERZENRITUALE STEHEN IN EINER LANGEN LITURGISCHEN TRADITION
Dass Kerzen im reformierten Gottesdienst liturgisch eingesetzt werden, wird erst seit rund vierzig Jahren beobachtet. Begonnen hat es mit Kerzen auf dem Abendmahlstisch. Dann tauchten die Osterkerze und Taufkerzen auf. Schliesslich wurde das Kerzenanzünden in die Fürbittengebete integriert. Aber auch bei Abdankungen und Erinnerungsfeiern sind Kerzenrituale beliebt. Kerzen im reformierten Gottesdienst sind zum einen Ausdruck eines neuen Bedürfnisses nach sinnlichen Zeichen und rituellen Elementen, zum andern dürfte ein Grund für deren Aufkommen in der Ökumene liegen.
Wenn die Reformierten heute Kerzen in die Liturgie einbeziehen, knüpfen sie an liturgische Traditionen an, die bis ins Frühchristentum zurückreichen. Eine dieser Traditionen ist die Osterkerze. Sie wird in der Osternacht am Osterfeuer entzündet und in die dunkle Kirche getragen, wo das Licht von Person zu Person weitergegeben wird. Damit in Zusammenhang steht die Taufkerze, deren Licht von der Osterkerze genommen wird. Das Ritual der Taufkerze hat 1992 Eingang gefunden in den von der Liturgiekonferenz der evangelisch-reformierten Kirche der deutschsprachigen Schweiz herausgegebenen Band über die Taufe. Auch ist es Bestandteil der Taufformulare in der jüngst erschienenen Taschenausgabe Liturgie. Hier wird das Tauflicht als Symbol der Auferstehung Christi gedeutet. Der Einbezug von Kerzen in die Liturgie ist nicht einfach katholisch. Es ist vielmehr Ausdruck davon, dass die Geschichte der reformierten Kirchen nicht erst mit der Reformation beginnt, sondern wie die der katholischen Kirche mit Jesus.
KERZEN SIND EIN RELIGIONSNEUTRALES SINNANGEBOT
Kerzentische oder Sandschalen mit Kerzen sind in reformierten Kirchen ein relativ junges Phänomen. Es ist auf das Anliegen zurückzuführen, Individualbesuchern der inzwischen meist ganztags geöffneten Kirchen die Möglichkeit zu bieten, ein privates Ritual zu vollziehen. Kerzenrituale gibt es in allen Weltreligionen. Sie sind ein religionsneutrales Sinnangebot, das wir in multireligiösen Gebetsräumen wie Flughafenkapellen oder Citykirchen besonders oft finden. In reformierten Kirchen gilt es allerdings konfessionelle Grenzen zu beachten: Kerzen haben hier nicht die Funktion, den Ort zu heiligen. Kerzen sollen auch nicht für die Toten angezündet werden. Dies sind katholische Funktionen und Traditionen. Aber als Zeichen der Fürbitte für einen Mitmenschen, als Symbol dafür, dass man an jemanden denkt oder in das eigene Leben Licht bringen möchte, haben sie auch in reformierten Kirchen ihren Platz.
PD Dr. Johannes Stückelberger ist Kunsthistoriker und seit 2010 Dozent für Religions- und Kirchenästhetik am Institut für Praktische Theologie der Universität Bern