Thomas Schaufelberger: Die Zwingli-Kirche gilt als unsinnlich. Sie kuratieren das Reformationsjubiläum in Zürich und haben sie kennengelernt: Ist diese Kirche nicht sinnlich?
Martin Heller: Ich habe nie verstanden, was die ständige Forderung nach «Sinnlichkeit» wirklich meint. Unsere ganze Welterfahrung ist doch sinnlich – wenn ich wahrnehme, mich bewege, jemandem begegne. Sinnlichkeitsdefizite können deshalb nicht das Problem der reformierten Kirche sein. Dort beobachte ich eher ein Schlingern zwischen mangelndem Stolz auf das, was man hat, und einer Art Hochmut. Das eine zeigt sich in Unsicherheit oder ungelenker Bescheidenheit, die andere in intellektueller Attitüde. Aus diesem Schlingern heraus vermag die Kirche ihre eigenen Rituale und Räume nicht mehr zu füllen. Das lässt sich nicht beheben mit ein paar Kerzen oder besonderer Musik. Aber ich erinnere mich an einen A+W-Kurs mit Pfarrerinnen und Pfarrern. Die Teilnehmenden sind ins Feuer gekommen, sobald es um das Wort ging. Da war plötzlich Vitalität spürbar, und Leidenschaft. Vielleicht ist Vitalität ohnehin der treffendere Begriff als Sinnlichkeit; es geht ja nicht um verkürzten Sensualismus.
Ist diese Vitalität in der reformierten Kirche spürbar?
Das Gefühl, auf einer immer kleiner werdenden Eisscholle zu sitzen, erschwert sie gewiss. Ich könnte mir auch vorstellen, dass viele Pfarrerinnen und Pfarrer darunter leiden. Sie spüren den Mangel an Vitalität und können wenig verändern. Ihre Formen und ihre Mittel sind veraltet. Die Lieder klingen merkwürdig, und dann haben sie noch Krach mit dem Sigristen oder dem Organisten. Diese Situation ist schwierig – theologisch und persönlich. Dazu kommen hohe Ansprüche an das Pfarramt wie auch an alle, die sich zur reformierten Kirche bekennen. Das kann ungerecht sein, belastend, lähmend.
Ist die Vitalität wiederzugewinnen – zum Beispiel im Rahmen des Reformationsjubiläums?
Das Reformationsjubiläum lässt sich glücklicherweise nicht instrumentieren. Ohnehin sind Barbara Weber und ich für die säkularen Ziele zuständig. Aber vielleicht resultiert aus dem Jubiläum eine Art Stress-
test für die reformierte Kirche: Was will sie überhaupt feiern? Und warum? Zum ersten «Salon Zwingli», einer internen Veranstaltungsreihe für die Projektbeteiligten, war Franz Rueb zu einem Gespräch über sein kürzlich erschienenes Zwingli-Buch eingeladen. Uns hat beeindruckt, als dieser erklärte Atheist sagte: «Ich liebe Zwingli.» Das habe ich noch von keinem Theologen gehört. Rueb konnte seine Begeisterung im Übrigen sehr genau begründen; solche Liebe entwickelt eine nochmals eigene Kraft.
Wie kommt Vitalität in eine Ausstellung – Ihr Medium?
Ein Basler Museumsdirektor hat einmal erzählt, dass Tinguely in einer frühen Beuys-Ausstellung so bewegt war, dass er vor Freude zu tanzen begann. Tinguely hat die Intensität und Energie einer ihm völlig fremden Ausdrucksform gespürt. Wenn Sie wollen, dass so etwas geschehen kann, müssen Sie versuchen, möglichst viel Dichte und Überzeugungskraft in Ihre Ausstellung hineinzubekommen. Egal, ob das Ergebnis dann spröde oder barock wirkt: Es geht darum, den Raum aufzuladen mit Energie. Dazu müssen Sie sich aber über die Bedingungen und die Möglichkeiten Ihres Handelns im Klaren sein, müssen ein Handwerkszeug, Erfahrungen und Können zum Einsatz bringen. Und schliesslich: Sie müssen tief drinnen wissen, warum Sie das tun, was Sie tun.
In diesem Zusammenhang interessieren mich die katholischen Monstranzen. Es gibt kaum einen Gegenstand, der in ähnlich radikaler Weise zum Zeigen dient. In der kunstwissenschaftlichen Literatur werden Monstranzen jedoch immer leer – also ohne Hostie – abgebildet. Das ist eigenartig, vielleicht auch bezeichnend. Denn Sie merken sofort, dass die Mitte, das Kraftzentrum fehlt, ganz egal ob Sie an den Leib Christi glauben oder nicht. Die Monstranz mag noch so kostbar, prächtig und sorgfältig gestaltet sein – sie bleibt ein blosses, leeres Gerät.
Das lässt sich übertragen auf die Kirche…
Ja, bei der Gestaltung eines Gottesdienstes ist das gewiss ähnlich. Bei einer Feier spüren Sie sofort, ob diese Energie da ist.
Kann man das lernen oder ist das Ereignis unverfügbar?
Man hat nie eine Garantie. Ich muss so etwas wie eine gastliche Atmosphäre schaffen. Wenn ich Ausstellungen realisiere, ist es sehr schwer zu vermitteln, was ich da eigentlich mache. Es braucht dazu viel Erfahrungswissen. Ich muss ausprobieren können und mich dann wieder korrigieren lassen. Immer alles genau gleich machen, funktioniert nicht. Das bedroht jede Vitalität – genauso wie in der Liebe, bei der Sexualität oder beim Shoppen. Man muss versuchen, immer dazuzulernen. Und möglichst lange in den eigenen Ausstellungen sein und wahrnehmen, ob und wie die Besucher berührt werden.
Wenn Sie erzählen, geht es um Kraft und Energie, um Feuer und Tanz. Es soll also immer eine Wirkung haben und Menschen bewegen?
Jede Ausstellung braucht ein Gegenüber. Für meine Arbeit ist diese Wechselbeziehung fundamental: Menschen anzusprechen, über ihr elementares Bedürfnis nach Bildlichkeit. Dahinter steckt auch der Wunsch nach Komplexität, nach etwas, das nicht völlig durchdringbar ist. Formen und Bilder, die das nicht leisten, sind keine Nahrung.
Von Thomas Schaufelberger,
Leiter A+W
Martin Heller ist Kulturunternehmer (Heller Entreprises, Zürich) mit Mandaten insbesondere in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er kuratiert das Reformationsjubiläum der Zürcher Landeskirche. Heller war von 1999 bis 2003 künstlerischer Direktor der Expo.02.