Liebe Leser:innen
Sind Sie ehrgeizig? Etwa für Sie selbst? Oder eher für eine Sache? Würden Sie Ihren Ehrgeiz auch zugeben? Also nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor anderen Menschen?
Im Magazin finden Sie Neues über die Ambivalenz von Ehrgeiz bei Frauen, über ehrgeizige Christinnen und Christen im Neuen Testament, über die Rolle von Ehrgeiz in der Talentförderung – und darüber, wie Ehrgeiz zum Wohle aller eingesetzt werden könnte. Also ich gebe es zu: Ich bin ehrgeizig. Zumindest für das Magazin. Mögen Sie etwas finden, das Sie inspiriert! Dafür haben wir uns ins Zeug gelegt. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre!
Juliane Hartmann, Beauftragte für die Ausbildung A+W
Wie ehrgeizig darf man sein? Für die einen ist Ehrgeiz einfach. Für die anderen Stigma. Ob Sünde oder Tugend, seinen ambivalenten Charakter hat er bis heute nicht verloren. Besonders weiblicher Ehrgeiz beschert Unbehagen.
Von Helen Ahner
Ich erinnere mich gut an eine Situation aus meinem Schulalltag. Die Lehrenden stellten eine Frage. Ich wusste die Antwort, aber ich zögerte: Wie oft hatte ich mich heute schon gemeldet? War es in Ordnung, wieder das Wort zu ergreifen? Würde es vielleicht übereifrig wirken? – Ich wollte nicht unangenehm auffallen oder zu viel Raum im Klassengefüge einnehmen. Eines war mir besonders wichtig: Auf keinen Fall wollte ich als Streberin dastehen! – Anhaltende schulische Erfolge waren in meiner Erfahrung nur dann sozial akzeptiert, wenn sie nicht das Ergebnis von sichtbarem Ehrgeiz waren.
Den Verdacht, verbissen ehrgeizig zu sein, wollte ich erst gar nicht aufkommen lassen. Ehrgeiz war böse und für Mädchen erst recht unangebracht. Diese Botschaft entnahm ich beispielsweise der despektierlichen Frage eines Klassenkameraden, ob ich später mal «so eine Karrierefrau» werden würde. Karrierefrauen, interpretierte ich seine Ausführungen, waren die erwachsenen Versionen von Streberinnen. Ihr Ehrgeiz machte sie egoistisch, unsympathisch und unattraktiv. Obwohl ich grosse (und ständig wechselnde) Träume für meine berufliche Zukunft hatte – ehrgeizig sein wollte ich nicht!
Von Sünde zur Tugend – für Männer
Woher kommt dieses Unbehagen am Ehrgeiz? Und was hat es mit Geschlecht zu tun? – Lange galt Ehrgeiz als Sünde, als unberechtigtes Streben nach einer höheren Position und damit als anmassender Versuch, die göttliche Ordnung umzuwerfen. In der griechischen Mythologie verbrennt Ikarus, weil er im Höhenflug zu weit nach oben strebt. In den Randnotizen zur anglo-amerikanischen Genfer Bibel wird Ehrgeiz sogar als Ursache des Sündenfalls benannt. Das schlechte Image wandelte sich erst mit der amerikanischen Revolution, schreibt der Historiker William Casey King. Damit die Kolonialisierung des amerikanischen Kontinents und die Unabhängigkeit von europäischen Monarchien gelingen konnte, musste Ehrgeiz seinen schlechten Ruf loswerden. Nur dann konnten diese ehrgeizigen Projekte als legitim anerkannt und ein auf Ehrgeiz beruhender Pioniergeist als nationales Identitätsmerkmal gefeiert werden. Im Kontext der amerikanischen Unabhängigkeit wurde Ehrgeiz von der Sünde zur Tugend – eine Tugend, die allerdings ausschliesslich weissen Männern vorbehalten war. Der Imagewandel ging auf Kosten der indigenen Bevölkerung und der verschleppten Sklav:innen: Sie wurde als unehrgeizige «Andere» imaginiert, die dem gottgegebenen Ehrgeiz der Kolonialherren dienen sollten. Auch Frauen waren vom Ehrgeiz, der im 19. Jahrhundert als Motor des amerikanischen Traums die junge Nation bewegte, weitgehend ausgeschlossen.
Trotz dieser Umdeutung behielt Ehrgeiz seinen ambivalenten Charakter. Gerade in Europa wurde er sein sündhaftes Image lange nicht los. Um 1900 trat mit der Idee der Leistung ein neues, wirkmächtiges Paradigma in das Leben der Menschen, vor dessen Hintergrund Ehrgeiz in besserem Licht erschien.
Die Historikerin Nina Verheyen beschreibt, wie die «Erfindung der Leistung» die deutsche Gesellschaft veränderte: Die Idee, dass gesellschaftliche Hierarchien sich an individuellen Leistungen orientieren sollten (Meritokratie), ging einher mit dem Versprechen, dass, wer sich nur genug anstrengte, belohnt würde. Leistung und der damit verbundene Ehrgeiz wurde zum zentralen Kriterium für soziale Anerkennung – aber nicht für alle gleichermassen. Das Streben nach Leistung sollte sich auf Ziele begrenzen, die der sozialen Position angemessenen waren. Die negativ konnotierte Sozialfigur des Strebers oder der Streberin stammt aus diesem Kontext. Sie enthält eine moralische Botschaft der besser Gestellten an die sozial Aufstrebenden – insbesondere an Arbeiter:innen und Frauen: nur nicht übertreiben und zu viel wollen.
Weiblicher Ehrgeiz als Wirtschaftsfaktor
Als Sportlerinnen in den 1920er-Jahren in Wettkämpfen antraten und Rekorde aufstellten, entbrannten heftige Diskussionen darüber, ob sie den Wettkampfgefühlen überhaupt gewachsen waren. Würden Ehrgeiz und Kampfgeist sie nicht ihre Weiblichkeit, ihren Verstand und ihre Gebärfähigkeit kosten? Auch der «Rekordwahn» ihrer männlichen Kollegen wurde kritisiert, aber die Fähigkeit, mit sportlichem Ehrgeiz umgehen zu können, wurde den männlichen Athleten nie grundsätzlich in Abrede gestellt. Genauso wie mein Klassenkamerad sich wohl nie der Frage stellen musste, ob er mal «so ein Karrieremann» werden würde. Die Leistungsgesellschaften Europas und der auf Kolonialismus aufbauende amerikanische Traum haben eines gemeinsam: Sie sind aus patriarchalen Strukturen hervorgegangen und reproduzieren diese. Sie haben zwar das Machtgefüge ihrer Zeit verschoben und Ehrgeiz als Ressource neu erschlossen – der Zugang zu dieser Ressource und die Legitimität ihrer Verwendung folgte allerdings weiterhin patriarchalen Logiken.
Ich bin in den 1990er-Jahren aufgewachsen – dem Jahrzehnt der Girlpower. Es war auch das Jahrzehnt der Entdeckung des weiblichen Ehrgeizes als Wirtschaftsfaktor: Junge Frauen sollten als «Topgirls» den neoliberalen Markt mit Arbeitskraft versorgen, gleichzeitig stellten sie eine umsatzstarke Konsumentinnengruppe dar. «Girl Bosses» und «Boss Bitches» verkörperten eine neue Form weiblichen Ehrgeizes – eine perfide Form, die neben Bestärkung und Eigenständigkeit mit Selbstausbeutung aufwartete. Ehrgeiz ist und bleibt ambivalent und lässt sich in alle möglichen Ideologien einspannen. Weil Ehrgeiz aber zur Ressource der Selbstverwirklichung taugt, müssen wir darüber reflektieren, für wen es einfach ist, ehrgeizig zu sein, und für wen Ehrgeiz droht, zum Stigma zu werden. Neben wertvoller feministischer Kritik wurde der weibliche Ehrgeiz der 1990er-Jahre mit klassischen misogynen Taktiken diffamiert: Der Archetypus der oberflächlichen, materialistischen, erfolgsfixierten aber emotional kalten Karrierefrau spukte herum – bis hinein in mein Klassenzimmer. Glücklicherweise hatte ich der Heimsuchung etwas entgegenzusetzen: Ich tanzte zu den Spice Girls, bildete Girl-Gangs und identifizierte mich mit Hermine Granger, einer der wohl berühmtesten Streberinnen der jüngeren Vergangenheit. Ein bisschen Ehrgeiz war vielleicht doch in Ordnung.
Dr. Helen Ahner forscht am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung im Bereich Geschichte der Gefühle. Sie studierte und doktorierte im Fach Empirische Kulturwissenschaft.
ahner@mpib-berlin.mpg.de
Sich selbst auf die Schultern klopfen, auf die eigene Karriere achten, ehrgeizige Pläne schmieden: Das sind keine christlichen Tugenden. Christ:innen dürfen zwar ehrgeizig sein, aber nur für andere. Das ist eine Provokation für die heutige Gesellschaft.
Von Benjamin Schliesser
Sagte nicht schon Jesus: «Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden» (Mt 23,12)? Damit scheint die Sache klar zu sein: Ehrgeiz hat mit einer christlichen Haltung nichts zu tun. Doch allzu schnell sollten wir uns mit dieser ersten Einschätzung nicht zufriedengeben.
Als Paulus das kleine Städtchen Philippi besuchte und dort die erste christliche Gemeinde Europas gründete, kam er zwei Kilometer vor dem Stadttor an einem gewaltigen, vier Meter hohen Ehrendenkmal vorbei. Dort ist die militärische Laufbahn eines ehrgeizigen Veteranen Gaius Vibius in Stein verewigt, die einzelnen Stufen seiner Karriereleiter. Noch heute kann man das eindrückliche Monument bewundern und sich in der griechischen Mittelmeersonne in seinen Schatten stellen. Paulus mag an diese Ehrenlaufbahn gedacht haben, als er im Philipperbrief auf die «Laufbahn der Schande» des Gottessohns zu sprechen kommt. Dieser war «doch von göttlichem Wesen … gab es preis und nahm auf sich das Dasein eines Sklaven … demütigte sich und wurde gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz» (Phil 2,6–8). Christus hat auf Status und Ehre verzichtet, und das sollen auch die Philipper: «Haltet vielmehr in Demut einander in Ehren; einer achte den andern höher als sich selbst!» (Phil 2,3).
Demut statt Ehrgeiz
Das Wort «Demut» taucht äusserst selten in der antiken Literatur aus der Zeit des Paulus auf, aber dort wird sie müde belächelt und abgelehnt. In einer so statusbewussten, von «honor and shame» geprägten Gesellschaft wie der römischen hat sie keinen Platz. Demut (tapeinophrosyne) ist eine Untugend, Ehrgeiz (philotimia) eine Tugend. Ehre ist die Währung, die den Menschen Anerkennung verschafft. Auf Schritt und Tritt begegnete man daher solchen Ehrenmälern – für Wohltäter, Politiker, Kaiser. Paulus bürstet radikal gegen den Strich: nicht Ehrgeiz, sondern Demut, kein steinernes Ehrenmal, sondern ein Schandmal aus Holz. Das ist eine massive Provokation und eine radikale Umwertung antiker Werte.
Nach 2000 Jahren sehen wir diese Umwertung der Werte vielleicht auch mit einem kritischen Blick. Was Paulus hier fordert, ist ja nicht unproblematisch. Man hat ihm vorgeworfen, dass er ja selbst an seinen Demuts-Idealen scheiterte und auch als Apostel ein ehrgeiziger, machtbewusster Charakter blieb. Man hat ihm falsche Demut vorgeworfen nach dem Motto «Wer sich selbst erniedrigt, will erhöht werden.» Schließlich darf man nicht verschweigen, welch schlimme Konsequenzen sich ergeben, wenn aus der Forderung nach Demut ein Regime der Demütigung wird. Dieser Gefahr ist die Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten ausgesetzt und viel zu oft erlegen.
Ehre wird dem Menschen zuteil
Worum ging es Paulus? Er will die vorherrschende Logik des Ehrgeizes und Selbstruhms umkehren. Wahre und unvergängliche Ehre kann sich der Mensch nicht selbst geben und in Stein verewigen lassen, sondern sie wird ihm zuteil. Paulus verweist wieder auf Christus: In seiner grössten Demütigung tritt ein anderer auf den Plan: Gott kehrt die «Laufbahn der Schande» um und erhöht ihn über alles (Phil 2,9). Gott war «ehrgeizig» zugunsten seines Sohns. Paulus will «ehrgeizig» sein um seiner Gemeinden willen (1Thess 2,19). Christinnen und Christen sollen «ehrgeizig» sein für andere. Das gängige, tägliche Spiel um die eigene Ehre nicht mitzuspielen, hat konkrete Folgen: Im Leib Christi spielen soziale Herkunft und Ehre keine Rolle, «Ekelschranken» zwischen den Lebenswelten werden überwunden, Elend und Elite sitzen an einem Tisch. Das ist die christliche Provokation auch für eine heutige Gesellschaft, die sich definiert durch Selbstentfaltung und Autonomie und die zunehmend nach den Mechanismen von «Ehre und Schande» funktioniert.
Was Paulus hier im Philipperbrief schreibt, bleibt also nicht abstrakt, sondern hat konkrete Auswirkungen auf das Zusammenleben und kann auch heute noch herausfordernd und inspirierend sein. Den anderen einmal auf die Schultern klopfen, sich am Erfolg anderer freuen, andere ermächtigen – so kann Ehrgeiz auch aussehen.
Prof. Dr. Benjamin Schliesser ist Ausserordentlicher Professor für Literatur und Theologie des Neuen Testaments an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u. a.: Briefe und Theologie des Paulus, Frühchristlicher Identitätsdiskurs, Sozialgeschichte des Neuen Testaments sowie Kirche und Gesellschaft. benjamin.schliesser@unibe.ch
Mit musikalischer Begabung und Begeisterung lässt sich Schönes erreichen. Für die glückliche Entfaltung eines Talents braucht es aber mehr, weiss Michael Eidenbenz aus Erfahrung mit der professionellen Leistungsförderung.
Von Miriam Neubert und Michael Eidenbenz
Alle Menschen sind irgendwie begabt, sagt Michael Eidenbenz. Manchmal zeigt sich das in einzigartigen Fähigkeiten oder Interessen, manchmal in Charaktereigenschaften oder als besondere Motivation. Als Direktor des Departements Musik an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) hat er professionell mit der Förderung von musikalischen Talenten zu tun. Ehrgeiz kann dabei motivierend wirken, aber auch Ego-Stress verstärken.
Begabung und Entwicklung
An die ZHdK kommen begabte Jugendliche und Studierende, die besonders schnell verstehen, wie Musik funktioniert, und besondere Freude oder Ehrgeiz für ein Instrument oder ihre Stimme entwickelt haben. Manche haben auch extreme Begabungen, die es ihnen leichter machen, die vorgegebenen Leistungslevels durch regelmässige Übung zu erreichen.
Das Üben gehört auch beim grössten Talent dazu, das ist in der Musik nicht anders als in anderen Disziplinen. Sich selbst immer wieder neu zu motivieren, manchmal überwinden zu können, braucht zusätzlich auch von aussen eine dauerhafte, wohlwollende Unterstützung. Langfristig, so zeigt zumindest die Erfahrung aus der Kinder- und Jugendförderung, sind Sorgfalt und Motivation dabei hilfreicher als sanfter Druck allein.
Den Begriff der Förderung schiebt Eidenbenz eher in den Hintergrund und stellt auf der Hochschulebene Bildung, Studium und Professionalisierung ins Rampenlicht. Es geht ihm darum, insgesamt ein unterstützendes Umfeld für die Entwicklung und Entfaltung der Talente zu schaffen, auch in kompetitivem Kontext. Der französische Begriff für Begabungsförderung betont besser, worum es ihm geht: «encouragement des talents», die Ermutigung der Talente bzw. Talentierten.
Erfüllung statt Erfolg allein
Ob begabte Menschen, die fleissig üben und ein förderliches Umfeld geniessen, auch langfristig erfolgreich sein können, hängt mit vielen weiteren Faktoren zusammen. Eidenbenz nennt hier z.B. die Fähigkeit zur Selbstkritik, psychische Stärke, Intelligenz und eine gewisse Weitsicht über das eigene Musizieren hinaus. Zudem brauche es einen hilfreichen Umgang mit Veränderungen, auch für den Fall, dass der Applaus weniger wird oder der Lohn ausbleibt. Wer schon in jungen Jahren viel Anerkennung erhalten hat, kann zusätzlich belastet sein, wenn der Erfolg nachlässt. Umso wichtiger ist die Erfahrung bei Kindern und Jugendlichen mit besonderen Begabungen, dass sie das Glück der Entfaltung ihres Talents erleben durften.
Sachlicher oder persönlicher Ehrgeiz
Der Ehrgeiz kann sich in dem ganzen Prozess der Förderung als «sachlich» oder «persönlich» zeigen. Der auf die Sache ausgerichtete Ehrgeiz kann sehr erfolgreich werden, etwa wenn es darum geht, sich Ziele zu setzen, die ausserhalb des bequem Erreichbaren liegen. Dieser Ehrgeiz kann davor bewahren, sich auf der Gewissheit der Begabung auszuruhen und zu meinen, deshalb weiterhin alles geschenkt zu bekommen. Hingegen kann der nur auf die eigene Person fokussierende Ehrgeiz gefährlich werden, etwa wenn er mit zu viel Eitelkeit gefüttert wird.
So kann eine einzelne ehrgeizige Person ein Team anspornen, über sich hinauszuwachsen, und bis zu einem gewissen Grad mag auch Konkurrenz stimulierend wirken. Wer aber das Team benutzt, um sich persönlich zu profilieren, schadet dem Resultat. Kein Streichquartett, keine Band, kein Orchester funktioniert, wenn ein einzelner versucht, als Selbstdarsteller die anderen zu Boden zu spielen. Wer jedoch ehrgeizig erkennt, dass eine weitere Probe nicht schaden würde, und die anderen, schon etwas müden Ensemblemitglieder dazu motiviert, kann zum gemeinsamen Erfolg beitragen.
Der Ehrgeiz und die Ehre Gottes
Ehrgeiziges Verhalten kann Teams also beflügeln oder hindern. Was für professionelle Musizierende gilt, könnte auch für weitere Mitarbeitende im kirchlichen Kontext relevant sein.
Als eine Regel im anspruchsvollen Berufsleben formuliert der Organist Eidenbenz: «Es geht nicht zuerst um dich. Es geht nicht um dich, sondern um etwas Grösseres, auf das sich dein Ehrgeiz richten möge, beispielsweise um die Gloria Dei».
In dieser Haltung kann für Mitarbeitende eine Entlastung stecken, die von Ego-Stress befreit. Der Wert «bester und traditioneller protestantischer Ethik», welche die eigene Arbeitsleistung in den Dienst übergeordneter Ziele stellt, ist Michael Eidenbenz vertraut. Zugleich erinnert er an die Momente, in denen Nichtstun produktiver ist als überspannter Aktivismus: Meditation statt Aktion, Bescheidenheit statt Ambition.
Die Wirkung von Kunst
Insgesamt ist die Entfaltung von Talenten mit viel Arbeit verbunden: zuerst bei denen, die ihre eigenen Begabungen professionell ausbilden. Dann in ihrem Umfeld, das sie ermutigt, fördert und fordert. Staunen kann Michael Eidenbenz schliesslich über die Biografien und Charaktere von Künstlern und Künstlerinnen. Und noch mehr darüber, was Kunst im Einzelnen und in der Gesellschaft auslösen kann. Sein Anteil daran, dass Musizierende nachhaltig dazu befähigt werden, ist nicht zu unterschätzen.
Im Text sind Aussagen aus dem Artikel «Begabung ist ein Geschenk, ihre Entfaltung ein Glück» aus der Schweizer Musikzeitung vom Dezember 2023 verarbeitet.
Prof. Michael Eidenbenz ist seit 2007 Direktor des Departements Musik der Zürcher Hochschule der Künste. Seither begleitet er in seiner Funktion Studierende bei der Professionalisierung. Eidenbenz wuchs in einer Musikerfamilie auf und wurde in seinem Klavier- und Orgelspiel früh gefördert. Nach seinem Musikstudium arbeitete er u. a. als Organist und Musikjournalist. michael.eidenbenz@zhdk.ch
Wäre es nicht besser, wenn alle durchschnittlich blieben? Nein, sagt Markus Hengstschläger im Interview. Der Genetiker an der Medizinischen Universität Wien plädiert für individuelle Exzellenz und gesellschaftliche Solidarität.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Was hat Ehrgeiz mit individuellen, angeborenen Talenten zu tun?
Markus Hengstschläger (MH): Jeder Mensch hat ein individuelles Set an Begabungen. Begabungen sind auch genetisch mitbestimmte Potenziale, die aber nur durch Wissenserwerb und Üben zur Entfaltung kommen. Der Mensch ist dabei nicht auf seine Gene reduzierbar. Er ist das Produkt aus der Wechselwirkung von Genetik, Epigenetik und Umwelt. Jedes Kind hat das Recht darauf, dass man sich auf die Suche nach seinen Talenten macht und diese auch fördert. Erst dadurch entsteht die Chance, auch selbst mit Motivation weiteres Wissen zu erwerben und zu üben, um schliesslich aus seinen Begabungen auch etwas zu machen, wenn man das will. Man sollte das vielleicht sogar mehr mit Engagement als mit Ehrgeiz tun, weil man seine Begabungen ja zum Wohle anderer einsetzen sollte.
In Ihrem Buch «Die Durchschnittsfalle» argumentieren Sie gegen die Fokussierung auf Durchschnittlichkeit. Sie betonen die Bedeutung von herausragenden Talenten und Abweichungen von der Norm. Weshalb ist die Förderung von Exzellenz wichtig?
MH: Jeder Mensch kann etwas Besonderes leisten – ob im Sport, in der Wissenschaft, in der Kunst, im Handwerk, im sozialen Bereich – wo auch immer. Seine Begabungen umsetzen zu können, ist ein enorm relevanter Aspekt der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Und es werden immer wieder neue Herausforderungen auf uns zukommen – im Alltag genauso wie global. Um dafür Lösungen finden zu können, müssen wir bereit sein, Neuland zu betreten und innovativ zu denken. Der Homo sapiens ist grundsätzlich lösungsbegabt, sozial und vernunftbegabt, wir müssen uns nur stetig darauf besinnen. Und wir müssen es allen ermöglichen, ihre individuelle Lösungsbegabung zu entwickeln, um dadurch schliesslich eine hohe kollektive Lösungsbegabung in der Gesellschaft zu ermöglichen.
Gibt es genetische Indikatoren, die auf ein hohes Potenzial hinweisen?
MH: Die Gene werden zu oft überschätzt. Gene sind nur Bleistift und Papier, die Geschichte schreibt jede und jeder selbst.
In welcher Weise kann das Bildungssystem, insbesondere in Bezug auf Kinder und Jugendliche, effektiver darin werden, individuelle Stärken zu fördern, statt Schwächen auszugleichen?
MH: Wichtig ist, dass jedes Kind unabhängig vom Einkommen oder Bildungsgrad der Eltern die Chance hat, seine Begabungen zu entdecken und sich auch weiterzuentwickeln. Ich denke, dass dabei zusätzlich zu Lehrerinnen und Lehrern sogenannte Talentscouts sehr hilfreich sein würden. Man muss seine Stärken kennen, um daran weiterarbeiten zu können. Die Kombination aus gerichteter Bildung, die bereits bestehendes Wissen vermittelt, und – wie ich es nenne – ungerichteten Kompetenzen führt dazu, dass sich Lösungsbegabung weiterentwickelt. Zu ungerichteten Kompetenzen zähle ich unter anderem kritisches Denken, Kreativität, recherchieren können, soziale Kompetenzen, emotionale Intelligenz etc.
Wie können wir zwischen ehrgeizigen Ambitionen und Werten wie Solidarität und Fürsorge eine Balance finden?
MH: Es ist wichtig, dass wir den Begriff Talent nicht wertend verwenden. Natürlich sind erfolgreiche Opernsängerinnen oder Fussballer
grossartige Talente. Aber Menschen, die dazu bereit sind – und es auch können – andere Menschen zu pflegen, sind ebenso grosse Talente. Ein Talent ist nicht mehr wert, weil man dadurch ein hohes Einkommen oder hohe Bekanntheit erreichen kann. Jeder Mensch hat Talente, nur eben jeder andere. Jeder Mensch kann exzellent sein, nur jeder in seinem Bereich. Und wir müssen uns vor Augen führen, dass das solidarische und fürsorgliche Miteinander aller individuellen Talente ein unverzichtbarer Begleiter in die Zukunft ist.
Welche Rolle könnten kirchliche Bildungseinrichtungen oder überhaupt Kirchen bieten, um einen gesunden Ehrgeiz zu fördern, der sowohl individuelle Talente als auch Gemeinschaftswerte berücksichtigt?
MH: Man kann ein einzelnes dickes Seil verwenden, um den Karren zu ziehen, aber was, wenn dieses Seil reisst? Besser ist es, man lehrt und lebt den Ansatz, viele dünne Schnüre zu einem dicken Seil zu verbinden. Dieses Seil wird stärker sein. Und wenn einmal eine dünne Schnur reisst, reisst nicht das ganze Seil, und man kann mit entsprechender Solidarität den Karren weiterziehen, bis die gerissene Schnur wieder zusammengeknotet ist und sich wieder einbringen kann.
Das Gespräch wurde schriftlich geführt.
Univ.-Prof. Dr. Markus Hengstschläger studierte Genetik, forschte an der Yale University (USA) und ist Vorstand des Instituts für Medizinische Genetik an der Medizinischen Universität Wien. Er forscht, unterrichtet Studierende und betreibt genetische Diagnostik.
Er ist u. a. stv. Vorsitzender der Bioethikkommission in Österreich und Leiter des Symposiums «Impact Lech». Zudem ist Hengstschläger Unternehmensgründer und Bestsellerautor.
«ehrgeizig»
Es braucht schon eine besondere Form von Ehrgeiz – manche würden es Vermessenheit nennen –, literarische Texte zu schreiben. Texte also, bei denen so lange daran geschliffen wird, bis der zugrunde liegende Gedanke in Form und Stringenz perfekt in Worte gefesselt ist. Im Unterschied zu einem dahingehauchten «ich liebe dich» zum Beispiel.
Die Vorstellung dabei ist natürlich, dass auch literarische Qualität nur ein Ausdruck von Leistung ist, ganz getreu dem alten Dichterslogan: «Schaff noch härter, mach es besser/mehr denn je und Stund’ um Stund’».
Wenn Sie noch überlegen, ob das Zitat Goethe oder Schiller war: Der vermeintliche Sinnspruch ist eine etwas gekünstelte Übersetzung von Daft Punk. Just jener Band, die schon immer begriffen hatte, dass es nicht die Inhalte sind, sondern eben die Form, welche sich verkaufen lässt.
Peter Bichsel, der vielleicht beste Kolumnist der Schweiz, hat auf die Frage, wie denn eine gute Kolumne zu schreiben sei, lapidar geantwortet, dass man mit dem ersten Satz anfange. Das Gegenteil von Ehrgeiz – sozusagen. Nur: Ich bin kein Peter Bichsel. Wie viele Schreibende mache ich mir zu viele Gedanken, um sie dann einfach in einem einzigen Guss auf Abruf auszuschütten.
Was nicht automatisch bedeutet, dass ich schlechte Kolumnen schreibe. Aber: Ich tue mich schwer damit, in diesem Zeitalter von Meinungen, Social-Media-Posts und halb fertigen, meist kopierten Ideen noch etwas in den ohnehin schon sprachüberfüllten Raum zu setzen. Sei das hier, sei das auf der Bühne.
Aber wenn Sie diesen Text bis hierhin gelesen haben, habe ich Ihnen ein paar wertvolle Minuten abgenommen, in denen Sie, geschätzte Leserschaft, weder schneller noch härter noch stärker sein mussten. Damit wäre zumindest meinem persönlichen Ehrgeiz dann doch Ge-
nüge getan.
Etrit Hasler, Autor und Slam Poet, gehört zu den Pionieren der Schweizer und der deutschsprachigen Slam-Poetry-Szene. Der boshaft-charmante Schnellsprecher schafft auf der Bühne bis 270 Wörter pro Minute. Daneben ist der St. Galler Moderator, Autor und Journalist seit 2020 Geschäftsführer des Dachverbands Suisseculture Sociale.
Ein Leben zwischen Pferden und Universität
Für mich spielt die Arbeit mit Pferden eine grosse Rolle. So oft wie möglich fahre ich vier-
einhalb Stunden ins Engadin. Dort reite ich in den Semesterferien mit Gästen aus und gebe Reitunterricht. Sonst studiere ich in Basel im Masterstudium Theologie. Das Leben zwischen diesen zwei Polen ist ziemlich kräftezehrend. Ich kenne es seit meinen Jugendjahren, an zwei Orten zu Hause zu sein: Ich habe den katholischen Religionsunterricht besucht und zehn Jahre ministriert. In meinen Teenie-Jahren war ich mit einer reformierten Kirchgemeinde in Rumänien. So kam ich in Kontakt mit der reformierten Kirche und habe auch Jugendarbeit gemacht. In der Messe fühle ich mich heute noch wohler als in einem reformierten Gottesdienst. Die katholischen Rituale bedeuten mir viel. Bei den Strukturen ist es umgekehrt. Da sagt mir als Frau der reformierte Kontext mehr zu als die katholische Welt. Durch diverse Reisen hat mich auch die Theologie zu interessieren begonnen: Was hält die weltweite Kirche zusammen? So habe ich Kirche vor allem als Raum kennengelernt, in dem allerlei Kulturen Platz finden. Dieser rote Faden hat sich bis heute durch mein Studium gezogen. Mich interessieren Themen wie Aussereuropäisches Christentum oder interkulturelle Theologie. In einigen Jahren wünsche ich mir, dass ich einen Weg gefunden habe, Arbeit mit Pferden und Theologie zu verbinden – vorzugsweise in einem Bergdorf mit einer Katze zu Hause.
Foto: Peter Hauser