Liebe Leserin, lieber Leser
Wenn etwas roh ist, dann ist es noch unfertig. Es muss bearbeitet, kultiviert, verwandelt werden, damit es geniessbar wird. Der Bildhauer muss den Stein behauen, damit er zum Kunstwerk wird, die Predigerin den Text bearbeiten, damit eine Predigt daraus wird. Viele Lebensmittel müssen gekocht werden, damit wir sie geniessen können. Andererseits: Rohkost kann ein Genuss sein und zudem gesund. Und ist das Rohe nicht natürlich und unverfälscht, etwas, wonach wir uns sehnen? Wieder anders ist das mit der Gewalt. Rohe Gewalt erschreckt uns, aber auch zivilisierte, kultivierte Gewalt kann verletzen und übergriffig erlebt werden.
Wir entgehen den Ambivalenzen nicht. Wir wünschen euch inspirierende Lektüre und eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit.
Bernd Berger, Leiter Weiterbildung pwb Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn
Als Tochter des Rohkostpioniers Ernst-Louis Günter gab es bei ihr zu Hause nur rohe Kost. Das prägt. Heute führt Ingeborg Burger-Günter die von ihrem Vater gegründete Firma und begeistert viele Menschen mit Rohkostprodukten und Seminaren zu gesunder Ernährung.
Von Esther Derendinger
Rohkost zum Frühstück? Eine Selbstverständlichkeit bei Ingeborg Burger. Wer jedoch denkt, es gäbe schon früh morgens Gemüsestäbchen, irrt. Ihr Müesli besteht aus Buchweizenkeimlingen, Datteln, Milchkefir und saisonalen Früchten, vorher gibt es einen knallgrünen Saft aus Gerstengras. Das klingt nach Power-Food.
Ingeborg Burger ist seit 1990 Inhaberin und Geschäftsführerin der Firma Vitapower AG im oberaargauischen Thörigen. Das Unternehmen hat sich auf den Verkauf von Bio-Rohkostprodukten und natürlichen Nahrungsergänzungen spezialisiert. Zudem bietet es Kurse und Ferienwochen an für Menschen, die sich ganz oder teilweise von rohen Lebensmitteln ernähren möchten. Gegründet wurde das Unternehmen von ihrem Vater, Ernst-Louis Günter, Künstler und Rohkostpionier der ersten Stunde. Er, der seine Gesundheit erst durch eine Ernährungsumstellung auf Rohkost wiederfand, hatte es sich zum Ziel gesetzt, möglichst vielen Menschen die heilsame Wirkung von Rohkost näherzubringen. So war es auch klar, dass in seiner Familie nichts Gekochtes auf den Tisch kam.
Seine Tochter Ingeborg hat das nie gestört. «Als Kind hatte ich trotzdem ab und zu Gelegenheit Gekochtes zu essen, bei der Grossmutter oder bei Freundinnen. Das war immer etwas Besonderes», erzählt sie. Alternative Ernährungsformen hatten früher weniger Akzeptanz als heute. So galt die Familie Günter im Dorf als «exotisch». Die künstlerische Arbeit des Vaters hat dies noch unterstrichen. Gelitten hat sie jedoch nie darunter.
Gut für Körper, Geist und Seele
Heute hat Ingeborg Burger selbst vier Kinder. Gegessen wird gesunde Vollwerternährung mit einem überdurchschnittlichen Anteil an rohen Lebensmitteln. «Ausschliesslich rohe Kost zu essen, eignet sich nicht für alle. Einen möglichst hohen Anteil roh zu verzerren, empfehle ich aber», und erklärt warum: «Rohkost heilt oder lindert viele Zivilisationskrankheiten, da sie reich an Enzymen, bioaktiven Substanzen und basenbildend ist, im Gegensatz zu stark verarbeiteten Lebensmitteln, die oft hochkalorisch, aber nährstoffarm sind.» Verbesserung der Beschwerden oder Genesung finden beispielsweise Menschen mit Bluthochdruck, Diabetes, Gelenkbeschwerden, Rheuma, Gicht, Abgeschlagenheit, Hauterkrankungen oder Allergien. Viele fühlen sich vitaler, klarer im Kopf und im Denken. Sie sind konzentrierter, schlafen besser und haben eine positivere Gemütslage. Der Zusammenhang zwischen Ernährung und deren Auswirkung auf die Psyche ist bereits gut erforscht.
Manchen Menschen ist eine ausgeprägt gesunde Ernährung zum Religionsersatz geworden, oder sie passen ihre Ernährung aus religiösen Gründen an. Ingeborg Burger betrachtet es ganzheitlich: «Die Ernährung wirkt auf Körper, Geist und Psyche.» Ob Rohkost auch eine spirituelle Dimension habe, kann sie so nicht beantworten. Ihr persönlich sei der Glaube an Jesus jedoch wichtig, sagt sie. Im Gebet sucht sie die Beziehung zu Gott, das stärkt ihr Vertrauen und schenkt ihr Sicherheit im Leben. Als regelmässige Bibelleserin findet sie in diesem Buch auch immer wieder Hinweise zur Ernährung. Diese kann sie auch mal kontextuell anpassen, wie auf ihrer Website, wo steht: «Der Mensch lebt nicht von der Rohkost allein», und sie findet in der Bibel auch Hinweise zum Fleischverzehr wie «Und ihr sollt unterscheiden zwischen dem, was heilig ist, und dem, was nicht heilig ist, zwischen dem, was unrein ist, und dem, was rein ist (3. Mos. 10,10)». Das gibt Anhaltspunkte, welches Fleisch gegessen werden soll und welches besser nicht. Bei Burgers kommt sowieso nur wenig Fleisch auf den Tisch, nie jedoch Schweinefleisch oder Krustentiere, welches sich negativ auf Zellwachstum und Zellteilung auswirkt. Und sie halten sich an die Devise: «Masshalten und vorwiegend pflanzliche Lebensmittel essen.»
Bewahrung der Schöpfung
Für Ingeborg Burger ist gesunde Ernährung und Rohkost mehr als nur Essen. Dahinter steht auch eine Haltung. So legt sie im Unternehmen aber auch privat beim Einkauf und der Produktion der Lebensmittel viel Wert darauf, Ressourcen zu schonen, fair produzierte Ware einzukaufen, möglichst wenig Verpackungen zu verwenden und Foodwast zu vermeiden. So sorgsam hergestellte Lebensmittel haben aber auch ihren Preis.
Der Einwand, dass gesunde Ernährung und Rohkost elitär sind, lässt sie jedoch nicht gelten. «Es mag sein, dass sich eher gut gebildete Menschen – die in der Regel auch ein höheres Einkommen haben – mehr mit gesunder Ernährung befassen und sich entsprechend ernähren», sagt sie. Jeder aber könne sich mit roher Kost ernähren. Das sei nicht unbedingt teurer. Statt Fleisch gibt es Nüsse, und für fast jedes «Super Food» gibt es eine heimische und damit günstige Alternative, z.B. Beeren und Wildkräuter. «Auch bei dieser Kost ist, wie beim normalen Essen, Convenience Food teuer. Möglichst viel sollte selbst zubereitet werden», erklärt sie.
Dass es Menschen gut geht
Die Umstellung auf Rohkost setzt auch Wissen um die richtige Zubereitung voraus. Dafür bietet Ingeborg Burger zusammen mit ihrem Mann Kurse an und sie begleiten Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen ihre Ernährung umstellen wollen. Denn Rohkost ist auch Heilkost.
Dreiviertel ihrer Kund:innen sind weiblich, die meisten zwischen 40 bis 80 Jahre alt. Vermehrt interessieren sich aber auch junge Menschen für diese Ernährungsform.
Burgers bieten ihre Praxisseminare im Hause ihres inzwischen verstorbenen Vaters Ernst-Louis Günter an, welches die sechsköpfige Familie nun selbst bewohnt. Bereits ihr Vater gab Kurse zu Rohkost und vergab Gästezimmer an Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen so essen wollten. Heute träumt das Ehepaar davon, ein eigenes Gesundheitszentrum zu eröffnen, um mitzuhelfen, dass es Menschen gut geht. Sie verstehen Gesundheit als etwas Ganzheitliches, das über das leibliche Wohl hinausgeht. Der Einzelne kann viel für sein eigenes Wohlergehen tun. Diese Menschen will das Ehepaar unterstützen.
Ingeborg Burger-Günter ist seit 1990 Geschäftsführerin der Firma Vitapower und trat damit in die Fussstapfen ihres Vaters. Aufgewachsen ist sie in einer Familie, die sich ausschliesslich mit Rohkost ernährt hat. ingeborg.burger@vitapower.ch
Vitapower AG betreibt einen Online-Shop für u.a. Rohkost-Produkte, bietet Seminare und Beratungen zu Rohkost und gesunder Ernährung an.
www.vitapower.ch
Rohkost-Ernährung enthält weitgehend unerhitzte und vorwiegend pflanzliche Lebensmittel. Es werden auch Lebensmittel einbezogen, die verfahrensbedingt erhöhten Temperaturen ausgesetzt sind (z.B. kaltgeschleuderter Honig, Öle, Trockenfrüchte oder Trockenfleisch. (Definition aus Giessner Rohkoststudie)
Wenn das Schreiben von Predigten Mühe macht, uns manchmal schier zu Grunde richtet, könnte es Zeit sein für einen Perspektivenwechsel. Der Predigt-Coach Uwe Habenicht öffnet seine Werkstatt und zeigt auf, wie das gehen könnte. Eine Anleitung.
Von Uwe Habenicht
Vielleicht sind es die falschen Vorstellungen vom Predigtschreiben, die diesen Teil pastoraler Arbeit so schwer erscheinen lassen. Warum sollte (Predigt-)Arbeit nicht lustvoll und entdeckungsreich sein können? Macht es nicht Freude, die eigenen handwerklichen Fertigkeiten anwenden und die künstlerischen Fähigkeiten ins Spiel bringen zu können? Was für eine bereichernde Herausforderung, etwas auf den Grund zu gehen, genau hinzusehen, den eigenen Erfahrungen Form zu geben, Intuitionen aufsteigen zu lassen und nicht zuletzt die vorhandenen Kräfte konzentriert einzusetzen, damit aus etwas Rohem etwas Gestaltetes entsteht. Öffnen wir für ein paar Augenblicke und Einblicke die Tür der Bildhauerwerkstatt, um für unsere Predigtarbeit zu lernen. Eine Predigt ist ein Kunstwerk. Seit mehr als 30 Jahren bin ich bildhauerisch tätig und habe dabei viel für mein «Predigtmachen» entdeckt. Also hinein in die Werkstatt.
Auswählen
Noch liegt nichts auf der Werkbank. Manchmal habe ich Glück und es liegt schon etwas dort. Heute jedoch muss ich mich entscheiden, welchem Rohmaterial ich mich zuwenden will. Kein Wählen ohne Auswahl. So schaue ich mich in der Werkstatt und im Garten nach etwas um, das meine Aufmerksamkeit in diesem Moment weckt oder vor längerem schon einmal geweckt hat und dann wieder in Vergessenheit versunken ist. Ich beuge mich hinunter zu nachklingenden Erinnerungen und noch gegenwärtigen Erfahrungen: Was ist an der Zeit, bearbeitet zu werden? Was reif genug, Form zu gewinnen? Welchem Material bin ich gewachsen, um etwas herauszuarbeiten, das sich meiner Gestaltungskraft nicht entzieht? Ich krame aus meinen Beständen hervor, was sich findet, betaste und begutachte, was da ist. Schliesslich lege ich einen Steinblock auf die Werkbank. Das ist er also. Nun sind wir allein. Nur wir beide – und alles, was in uns Spuren hinterlassen hat.
«Um Künstlerin zu sein, musst du in einer Welt der Stille leben.»
Louise Bourgois (1911–2010), Bildhauerin
Still werden
Für die Bildhauerin, den Bildhauer beginnt nun ein langer und stiller Prozess des Kennenlernens, des Hinschauens, Ergründens und Zuhörens. Was nehme ich wahr in und an diesem Block aus verschiedenen Perspektiven? Ich wende den Stein, gehe um ihn herum, betaste ihn mit Händen und Augen. Wo gibt es Raues, Risse, Vertiefungen? Woran bleibe ich hängen? Wo spüre ich Widerstand, Schärfe, Unerwartetes? Was erzählt er mir? Welche Spuren kann ich an ihm erkennen?
Ja, wir müssen miteinander warm werden. Und herausfinden, wo Fremdheit zwischen uns bleibt. Diese erste Phase ist entscheidend für alles, was folgen wird. Wer sie überspringt, wird immer nur die eigene Stimme hören und die spannungsvoll fruchtbaren Widerstände des Vorgegebenen verpassen. Im Grunde ist alles schon da. Ich muss es nur entdecken.
«Wie leicht ist es jedoch, einen Stein zum Sprechen zu bringen. Man braucht ihn nur mit ins Bett zu nehmen und ihn gut unter der Federdecke anzuwärmen. Kaum ist er warm, erzählt er die längsten Geschichten.»
Jean Arp (1886–1966), Bildhauer und Künstler
Die Form lösen
Michelangelo sprach davon, in der Bildhauerei gehe es darum, die Form aus dem Stein zu lösen. Mitten im ungestaltet Rohen sitzt eine Form, die darauf wartet, sichtbar, fühlbar und lebendig zu werden.
«Das Gebirge, der Baum haben die Gefühlswelten in sich, die herausgearbeitet werden können.»
Ernst Barlach (1870–1938), Bildhauer und Schriftsteller
In meinem Predigtatelier gelten die gleichen Regeln für diese erste wichtige Phase des Entstehungsprozesses. Ich wähle einen Bibeltext aus, der wie ein roher Steinblock vor mir liegt. Im Folgenden skizziere ich meine Herangehensweise, um einen Textblock lebendig werden zu lassen, um vor aller Gestaltung bereits im Ungestalteten und Rohen zu sehen, was in ihm steckt.
«Der Künstler von Rang bewahrt Tradition, indem er sie in Frage stellt. Er treibt seine Sache voran, erweitert Themen und Techniken und findet neue Formulierungen.»
Emil Cimiotti (1927–2019), Bildhauer
Schritt für Schritt
Ich lese den Text mehrmals laut und lasse ihn klingen. Dabei bewege ich mich im Raum und gebe ihm beim Lesen, Gehen und Innehalten Rhythmus und Ton. Ich lausche dem Gehörten nach und in es hinein. Ich probiere unterschiedliche Lesarten, Betonungen, Stimmungen und lege Gefühlsfärbungen zwischen die Zeilen. Immer wieder gehe ich dem Gelesenen nach. Was klingt nach? Woran bleibe ich hängen?
«Mein Verhältnis zu dem Material, mit dem ich arbeite, ist unmittelbar. Mit den Händen suche ich es aus. Mit den Händen forme ich es. Durch meine Hände übertrage ich ihm meine Kraft. Meine Hände lassen den Gedanken zur Form werden, sie übermitteln dabei etwas, das sich meinem Bewusstsein entzieht.»
Magdalena Abakanowicz (1930–2017), Bildhauerin
Kontur gewinnen
Ich wähle dann einen Vers oder Halbvers aus, der meine Aufmerksamkeit besonders auf sich zieht und spreche ihn beim Gehen mehrmals auswendig und laut. Sprechrhythmus und Schritte werden zu einer einzigen Bewegung. Wenn mir der Wortlaut vertraut ist, beginne ich mit Variationen zu experimentieren. Ich verändere ein Wort. Im Wechsel von Gehen und Stehen, Sprechen und Hinhören, gewinnt die rohe Form des Textes Kontur. Immer wieder kehre ich zum Ausgangstext zurück und tausche andere Worte aus. Nach und nach tauche ich in die Tiefenschichten des Textes ein. Ich sehe, was in ihm steckt und durch mich lebendig werden will. Im Grunde ist alles schon da.
«Alberto Giacometti und ich bearbeiten große und kleine Granitblöcke … Durch Zeit, Eis und Wetter wunderbar abgeschliffen … Warum also nicht die große Arbeit den Elementen überlassen und uns begnügen, runenartig unsere Geheimnisse einzuritzen …?
Max Ernst (1891–1978), Maler und Bildhauer
Weiter arbeiten
Nun kann ich beginnen, das Entdeckte auch für andere zu gestalten. Ich kann in grosser Freiheit mit all meinen Mitteln, Fähigkeiten und Fertigkeiten, Erfahrungen und Erinnerungen gewichten, hinzufügen, formen und herausschälen. Das Grundlegende liegt immer schon vor mir.
Uwe Habenicht ist Pfarrer in St. Gallen Straubenzell. Er schreibt über Spiritualität und arbeitet zudem als Predigt-Coach in der Aus- und Weiterbildung. uwe.habenicht@straubenzell.ch
Die Zitate der Kunstschaffenden stammen fast alle aus: Eduard Trier, Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, 5. Auflage 1999
TIPP: «Ich bin so frei …» lustvoll predigen – ab 25. April 2023, mit Einzelcoaching
Die Polizei ist täglich konfrontiert mit Gewalt. Welche Strategien Polizistinnen und Polizisten bei «roher» Gewalt anwenden, erklärt Colette Bühler, Chefin der Abteilung Betriebs- und Polizeipsychologie der Kantonspolizei Zürich.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Rohe Gewalt meint eine ungerechte, grausame Anwendung der Gewalt. Was ist rohe Gewalt?
Colette Bühler (CB): Die Definition und auch die Wertung von roher Gewalt ist schwierig. Denn bei der Gewalt gibt es unterschiedliche Perspektiven. Wir unterscheiden zwischen instrumenteller Gewalt, die geplant ist und zur Umsetzung eines Zweckes eingesetzt wird, und zwischen feindseliger/aggressiver Gewalt, die hauptsächlich durch Emotionen gesteuert wird und dadurch oft ausser Kontrolle gerät. Bei den dahinter liegenden Motiven zeigt sich, dass rohe Gewalt nicht automatisch verwerflicher ist als instrumentelle Gewalt. Ein Serienkiller kann überlegt vorgehen, ohne dass rohe Gewalt sichtbar wird. Anders ein Amokläufer mit hoher Emotionalität. Die Beurteilung über den Täter und seine Tat wird den Juristen und den Forensikern überlassen.
Unabhängig von der Beurteilung der Gewalt: Welche Faktoren tragen zu Gewalt bei?
CB: Aggression ist schon in der Natur angelegt und für unser Fortbestehen wichtig. Bei den Menschen spielen genetische Faktoren eine Rolle sowie auch Faktoren der Persönlichkeit wie Frustrationstoleranz. Auch die Impuls- und Affektkontrolle ist verschieden. Jugendliche können sich oft weniger kontrollieren, weil der Frontallappen im Gehirn noch in Entwicklung ist. Abgesehen davon lernen Menschen auch Gewalt als Lösungsmuster, z.B. von ihren Bezugspersonen, «Idolen» und Gleichaltrigen. Auch die aktuelle Situation kann zusätzlich eine Gewalttat beeinflussen, wie z.B. Angst, Suchtmittelkonsum oder Gruppendynamik. Manchmal legitimiert eine übergeordnete Instanz den Einsatz von Gewalt. Eine sektenähnliche Gruppe oder politisch motivierte Gruppierung erlaubt, gewisse Menschen als Objekt zu betrachten und somit zum «Freiwild» für Gewalt zu machen. Solche Faktoren unterstützen gewisse Persönlichkeiten, ihre Hemmschwelle herabzusetzen.
Wo begegnen in der Polizeiarbeit Formen von Gewalt?
CB: Eigentlich überall, wo Menschen sind. Menschen wenden Gewalt an gegen sich selbst, gegen andere und gegen Objekte. Auch Suizide oder extremes Suchtverhalten sind Formen von Gewalt. Wir haben häufig mit häuslicher Gewalt zu tun. Auch Raserdelikte gehören dazu, Verletzungen oder der Tod von Menschen wird in Kauf genommen. Dann gibt es Gruppenphänomene wie Schlägereien, Demonstrationen, die ausser Kontrolle geraten. Was unsere Leute besonders belastet, sind subtile Formen von Gewalt. Zum Beispiel passive Gewalt, wenn z.B. Eltern Kinder verwahrlosen lassen, psychisch wie physisch, dann ist das auch eine sehr starke, in der Folge eine rohe Gewalt.
Wie bereiten sich Polizistinnen und Polizisten vor, um Gewalt zu begegnen?
CB: Sie haben materiell und ausbildungstechnisch viele Instrumente. Wichtig ist der Eigenschutz. Das Material, das zur Verfügung steht, ist eine Hilfe. Dann braucht es auch eine saubere Lagebeurteilung. Polizistinnen und Polizisten gehen nie in eine Situation, ohne den eigenen Schutz sicher zu stellen. Zum Glück ist es meist möglich durch Dialog Situationen zu entschärfen. Oft sind Gewalttaten bereits geschehen, wenn die Polizei kommt.
Welche Interventionen werden in der Aus- und Weiterbildung geübt?
CB: Wir kennen die «3 D-Strategie». Als erstes steht der Dialog. Der grösste Teil der Polizeiarbeit ist das Gespräch, das Einsatzmittel Kommunikation. Als zweiter Schritt steht Deeskalieren. Hier geht es darum, der betroffenen Person zu zeigen, dass eine Grenze überschritten wird. Das Verhalten der Person und eine Erwartung wird spezifisch angesprochen: «Es ist jetzt gut!» oder «Ich sehe, dass Sie jetzt im Stress sind, wir erwarten jetzt aber von Ihnen, dass…» Das ist dann auch die letzte Chance, bevor der dritte Schritt zur Anwendung kommt: Durchgreifen. Der Polizist oder die Polizistin muss sich und andere schützen. Deshalb kann es verhältnismässig sein, jemanden mit einer Zwangstechnik unter Kontrolle zu bringen. Sobald dies geschehen ist, beginnt der Dialog wieder. Diese Situationen werden ständig geübt.
Polizistinnen und Polizisten müssen selbst Gewalt anwenden. Ist das auch belastend?
CB: Ja, deshalb sind die Assessments für neue Polizistinnen und Polizisten so wichtig. Wir brauchen Leute mit einer gewissen Reife. Sie müssen ihre Belastbarkeit kennen, eine körperliche und geistige Fitness haben. Es ist auch notwendig, Zusammenhänge verstehen zu können und im Team zu arbeiten. Auch Integrität und Frustrationstoleranz sind wichtige Kompetenzen. Die Arbeit ist anspruchsvoll. Es ist ein hoher Anspruch, in jeder Situation verhältnismässig und adäquat reagieren zu können, und das unter Stress. Wichtig ist, dass sie sich von der Gewalt anderer nicht anstecken lassen, d.h. immer professionell reagieren.
Welche individuellen und kollektiven Strategien von Debriefing werden bei Ihnen angewendet, um mit belastenden Situationen umzugehen?
CB: Ich muss Stressbewältigungs-Methoden für mich kennen. Auch ein stabiles, privates Umfeld ist ein präventiver Faktor. Dann kommt die Betriebskultur hinzu: Polizistinnen und Polizisten müssen wissen, dass sie von ihren Vorgesetzten unterstützt werden. Sie können auch jederzeit sagen, dass sie einen Einsatz nicht übernehmen können. Nach jedem Einsatz ist eine Nachbesprechung mit dem Kollegen, im Team, mit der Vorgesetzten sinnvoll für die Selbstreflektion. Dann haben wir ein System von Peers, die speziell im Bereich Care-Giver geschult worden sind, und die 24 Stunden angesprochen werden können. Sie stehen wie die Polizeipsychologen schon während des Einsatzes und danach zur Seite.
In gewissen Situationen, zum Beispiel bei Schusswaffeneinsätzen, gibt es auch psychologische und juristische Betreuung. Das Ziel der Verarbeitung ist, belastende Eindrücke und die eigenen Reaktionen darauf verstehen zu können. Akute Belastungsreaktionen sind normale Reaktionen auf ein aussergewöhnliches Ereignis. Wichtig ist, dass unsere Polizisten und Polizistinnen wieder einsatzfähig sind.
Colette Bühler ist Chefin der Abteilung Betriebs- und Polizeipsychologie der Kantonspolizei Zürich. Ihre Aufgaben umfassen unter anderem die Begleitung von Polizistinnen und Polizisten, Selektion, diverse Aus- und Weiterbildung, Beratung, Krisenintervention und Unterstützung der Verhandlungsgruppe.
Rohe Gewalt ist grausam und ungerecht. Sie ist kein Mittel der Wahl, sondern soll ausschliesslich dem Staat vorbehalten bleiben. Aber auch staatliche Gewalt dringt in die Rechte und den Körper der Person ein. Und staatliche Gewalt trifft Menschen nicht nur ungleich, sondern schützt Menschen auch in ungleicher Weise.
Von Frank Mathwig
Der Ausdruck «rohe Gewalt» ist prekär, weil er ein Arrangement mit der Gewalt trifft. «Roh» meint entweder eine falsche Anwendung von Gewalt. Wie bei der Warnung auf Fleischwarenverpackungen «nicht zum Rohverzehr geeignet» ginge es darum, rohe Gewalt durch Überführung in einen anderen Aggregatzustand (gegart, gekocht, gebraten) rechtlich und ethisch geniessbar zu machen. Oder «roh» qualifiziert das hemmungslos destruktive Verhalten einer Person oder Gruppe (Verrohung). Beim kulinarischen Dreieck (roh, konserviert, verfault) von Claude Lévi-Strauss geht es um gegenläufige Prozesse: Das Rohe als Ausgangspunkt hat keinen Bestand. Es wird entweder kulturell konserviert oder natürlich kompostiert.
Gare Gewalt wäre die kultivierte Version von Gewalt, rohe Gewalt die kulturzerstörende Gegenversion. Eine grausame, brutale, masslose oder unrechte «rohe» Gewalt steht einer Gewalt gegenüber, die hart und schmerzhaft sein kann, aber massvoll dosiert, rechtmässig und kultiviert erscheint. Entsprechend unterscheidet die Antike zwischen violentia, der direkten körperlichen Grausamkeit, und potestas, der indirekten strukturellen Verfügungsgewalt.
Gesteuerte Gewalt
Wer also Gewalt als «roh» bezeichnet, distanziert sich von bestimmten Formen der Gewalt, aber nicht von der Gewalt an sich – «Willst du die Autorität des Staates nicht fürchten müssen?» (Röm 13,3). Für den Paulusschüler Thomas Hobbes herrschte der Leviathan, der Prototyp des souveränen, gewaltsam Recht durchsetzenden Staates, durch «Gottes Gnade». Für den abendländisch-politischen Mainstream hängt die Frage, was Gewalt «roh» macht, an Subjekten, Anlässen, Motiven und Funktionen der Gewalt: Staatliche Behörden dürfen tun, was einfachen Bürgerinnen und Bürgern untersagt ist. Die Motive der Gewaltanwendung sind weder willkürlich noch selbstbezüglich, sondern folgen bestimmten Regeln und fokussieren auf andere oder eine Allgemeinheit. Anlass und Funktion von staatlicher Gewalt bestehen darin, grössere Gewalt abzuwehren und zu verhindern. Kanalisierung und Monopolisierung der Gewalt lautete seit jeher das Credo abendländischer Politik – nicht ihre Überwindung oder Abschaffung.
Aus umgekehrter Perspektive haben die Gender- und Postcolonial-Studies die Aufmerksamkeit auf das spannungsreiche Verhältnis von vulnerability (Verletzlichkeit) und resistance (Widerstand, Selbstbehauptung und -verteidigung) gelenkt. Gewalt hat zwei Dimensionen: Sie dringt von aussen unter die Haut und bestreitet die Integrität der Person. Politische Gewalt zielt auf Selbstimmunisierung: Sie macht eine Person oder Gruppe physisch zum Objekt. Und sie legitimiert den Übergriff, indem sie den sozialen und politisch-rechtlichen Subjektstatus dieser Person oder Gruppe bestreitet. Das staatliche Gewaltdispositiv reserviert «rohe Gewalt» für das Verhalten von Personen, das aus der Norm fällt. Aus postkolonialer und Genderperspektive zeigt sich «rohe Gewalt» dagegen in staatlichen Strukturen und Ordnungen, die Personen aus dem Schutzraum des Rechts und der sozialen Zugehörigkeit ausschliessen. Der Staat immunisiert sich gegenüber Gewaltkritik, indem er per definitionem ausschliesst, dass seine Gewalt gegen Subjekte gerichtet ist. Die Legitimation von Gewalt ist selbst gewalttätig.
Aus theologischer Perspektive mahnte Aron R. Bodenheimer: «Seid auf der Hut vor den Gewaltlosen.» Sein Einwurf lässt zwei Lesarten zu: Die subversiv-dialektische Variante rechnet mit Gewalt, um ihr nach Jesu Vorbild konsequent zu widerstehen (Mt 5,44: Feindesliebe, Jes 2,1–5; Mi 4,1–5: aktiver Gewaltverzicht; Mt 5,1–11: Gewaltfreiheit oder Mt 5,39: Vergeltungsverbot). Die Selbstbehauptungsvariante hingegen präsentiert Gewalt als Lösung, etwa wenn Esther ein Massaker befiehlt, um den Genozid an ihrem Volk in der Diaspora zu verhindern (Ester 8f.).
Gewaltverzicht und Verfügungsmacht
Eine aktuelle Fortsetzung der Kontroverse zwischen dem Gottessohn und der zur persischen Königin aufgestiegenen Jüdin Ester bieten Judith Butler und Elsa Dorlin. Die amerikanische Philosophin argumentiert für eine care ethics, die in der Erfahrung der fundamentalen und wechselseitigen Abhängigkeiten jedes Lebens gründet. Dagegen plädiert ihre französische Kollegin für eine «dirty care», die den ethischen Aufmerksamkeits- und Achtungsfokus umkehrt: Angesichts der historischen Erfahrungen von Ausgrenzung – staatliches Recht verteidigt diejenigen, die sich ohnehin wehren können –, hängt die Fähigkeit zur Selbstverteidigung derjenigen, deren Leben nicht als verteidigungswürdig gilt, davon ab, ihre Aufmerksamkeit auf die Bedrohungen durch die anderen, anstatt auf das Angewiesensein der anderen zu lenken.
Das ist starker Tobak für eine christliche Moral. Vorbildhaft verzichtete Jesus bei seiner Gefangennahme auf die gewaltsame Selbstverteidigung (Mt 26,52). Allerdings hätte er seinen Vater auch um «mehr als zwölf Legionen Engel» bitten können (Mt 26,53). Jesus hatte die Wahl, weil er über eine Alternative verfügte. Gewaltverzicht setzt die Verfügungsmacht darüber voraus, worauf verzichtet wird. Andernfalls ist sie nur ein Symptom von Unfreiheit und der Ohnmacht gegenüber roher Gewalt.
Prof. Dr. theol. Frank Mathwig ist Beauftragter für Theologie und Ethik bei der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Zudem ist er Titularprofessor für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin. frank.mathwig@evref.ch
Viele belegten den amerikanischen Dichter Charles Bukowski bzw. seine Lyrik und auch seine Prosa mit dem Adjektiv «raw». Das machte mich neugierig und ich las nach. Es gibt ein Gedicht von ihm – «Raw with Love» – das zwei Arten der Rohheit enthält: das nach Liebesspiel und wilder Nacht, in Küssen und mit Sex verbrachter Zeit, rohe Gefühl der Lippen. Manch deutscher Dichter der Romantik, aber auch des Sturm & Drangs hält dafür «wund geküsst» in petto.
Aber wir sind ja in den drogendurchzogenen 70ern mit Bukowski und von daher ist das Rohsein auch ein bis aufs Fleisch verwundbar-Sein durch das Gefühl der Liebe. Denn das angesprochene Gedicht ist durchaus schwärmerisch und sinnlich. Bukowski, Trinker und wilder Poet, nicht immer frauenfreundlich, wenig zahm, wenig konventionell und doch sehnsüchtig hier und da nach einem weniger rasenden Geist, beschert einem selten Feingeschliffenes.
Doch gibt es im grossen Werk, den Windungen und Gedichten zur klassischen Musik etwa, staubige, drusenhaft verborgene Diamanten. Und wir wissen ja, dass solche Rohdiamanten ihre Entdecker besonders entzücken.
Nora Gorminger ist für vier Ausgaben unsere Kolumnistin. Die Schriftstellerin hat Amerikanistik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert und danach eine Promotion im Fach Amerikanistik begonnen. Seit 2010 leitet sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg als Direktorin. Zahlreiche Aufträge, Aufenthaltsstipendien und Lehraufträge führen sie als Autorin, Dozentin und Performerin rund um den Globus. nora-gomringer.de
Die Kirche aufschliessen
Ich bin in Dresden aufgewachsen, wo ich das einzige getaufte Kind in meiner Schulklasse war. Geprägt hat mich die Zeit der Wende, in der sich Menschen mit Kerzen den Panzern entgegenstellten. Es beeindruckte mich, dass der Glaube und die Gemeinschaft den Menschen so viel Kraft gaben, dass sie für ihre Ideale und ihre Visionen einstanden. Ganz anders erlebte ich die Kirche nach der Wende. Da fuhren die Privilegierten mit dem neuen Auto vor, während andere in Arbeitslosigkeit versanken. Die Enttäuschung darüber löste bei mir eine Glaubenskrise aus.
Erst zwanzig Jahre später, nachdem ich als Agronomin in die Schweiz gezogen war, fand ich den Weg zurück in die Kirche. Ich engagierte mich im Gemeindevorstand und sah Stärken und Potenzial der Kirche, aber auch Spannungen und Streit. Der Studiengang für den Quereinstieg in den Pfarrberuf sprach mich an, weil ich in der Kirche nicht mehr fand, was ich suchte.
Mein grosses Thema ist die Gemeinde. Was ist sie und was braucht sie? Ich will nicht die Pfarrerin sein, die alles vorgibt und einsam auf der Kanzel steht. Ich wünsche mir, dass die Gemeindeglieder selbst aktiv werden. Und dass ich diejenige sein darf, die ihnen die Kirche aufschliesst, damit sie dort ihre Ideen umsetzen können. Ich möchte gerne miterleben, wie die Kirche im 21. Jahrhundert ihre schweren alten Türen aufreisst und einen frischen Wind hineinblasen lässt.