Liebe Leserinnen, liebe Leser
Alles im Wandel – alles! Ekklesia semper reformanda. Dieses reformatorische Grundprinzip, dass die Kirche in einem ständigen Wandel und Identitätsfindungsprozess ist, haben wir verinnerlicht. Ein Changeprozess jagt den nächsten. Nun beginnen wir zu lernen, dass sich auch Geschlechteridentitäten wandeln können – das bleibt für einige eine Herausforderung. In der Redaktionskommission haben wir länger als sonst überlegt, was wir mit dieser Ausgabe bewirken wollen, auch um uns nicht verdächtig zu machen, lediglich dem Zeitgeist hinterherzuhecheln. Teilen Sie mit uns die Neugier auf diese Trans-Formationsprozesse mit differenzierten Beiträgen, die unsere Gottes- und Menschenbilder herausfordern, für das Leid sensibilisieren und kreative Lust an Körper und Geist wecken.
Stephan Hagenow
Leiter Personalentwicklung Pfarrschaft,
Reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn
Ein Pfarrkonvent. Innerhalb der Andacht fragte ich statt einer Predigt die anwesenden Kolleg*innen: «Können Sie sich vorstellen, in der Kirche Liebe zu machen?»
Von Thomas Hirsch-Hüffell
Umgehend stand ein Emeritus auf: «Ja, das kann ich mir sehr gut vorstellen. Ich würde das gern mal erleben.» Schweigen, Wegducken, Kichern. Ich schaue ihn an, er mich. Wir verstehen uns.
Eine junge Kollegin steht auf: «Also mal im Ernst: Es muss doch Bereiche geben, wo Gott und Kirche nicht immer dabei sind. Es gibt schliesslich noch eine Intimzone.» Stemmt die Hände in die Hüften, nickt sich selbst zu und setzt sich. Einige Kollegen applaudieren.
Ich stelle mir den Emeritus vor. Wie er behutsam die Kirchentür öffnet und seine Freundin hereinwinkt. Seine Augen leuchteten beim Aufstehen im Konvent. Ich stelle mir die junge Kollegin vor. Wie sie alle verfügbaren Schlösser anwendet. Weil sie es satt hat von einem moralisierenden Gott beobachtet zu werden.
Es geht ja hier nicht um «schöpfungsgemässe Fortpflanzung», also um etwas vermeintlich «Anständiges», «Gottgewolltes». So hätten es die Rechtschaffenen gern. Es geht um Lust. Mehr noch: um Lust in der Kirche. Da, wo man sonst züchtig hockt, nicht rechts, nicht links guckt, schon gar nicht nach hinten, niemanden länger als fünf Sekunden fixiert. Wo alles Wichtige vorn ist, und das besteht aus Worten und dem grossen Schwarzen, das nicht gucken lässt. Wo man den Unterleib abschirmt – diese Ablenkung vom Eigentlichen.
In diesem Ambiente übereinander herfallen zu wollen liegt eigentlich sehr nah. Deswegen war den Priestern ja auch geboten, die Liturgie abzulesen. Damit sie beim Dauer-Zelebrieren nicht aus Versehen aussprechen, was ihnen noch so in den Sinn kommt.
Ist Gott so trocken gelegt?
Was, wenn wir uns jahrhundertelang geirrt hätten – immer auf der Schleimspur der Schlange? Wenn sie es war, die sagte, wir sollten uns nackt schämen – und gar nicht Gott? Wenn die kirchlichen Ratgeber, die bis heute in die Schlafzimmer regieren möchten, die eigentlichen Ketzer wären?
Was, wenn die unverschämte Lust Teil göttlichen Lebens wäre?
Wenn bei der Liebe und ihrem Schaukeln und Atmen eine ähnliche Innigkeit einkehrte wie bei einer Gebetslitanei. Wenn die Liebenden hinein-
glitten in ihre Zwischenwelt wie in einen 16-strophigen Choral, der nicht enden mag. Wenn sie aufeinander achten wie Menschen im Gottesdienst bei der Fürbitte auf ihre Lieben. Wenn sie schweigen und sich ansehen, so wie man in der Kirche angesehen sein möchte: Weil du (Gott) mich anschaust, werde ich schön.
Jenes arabisch-hebräische nafas – näfäsch – Atmen, Seufzen, Stöhnen - Kehle, Seele. Der Hauch, der zu Beginn aus Erde eine Antwort herausatmete. Diese Lust Gottes, es möge uns geben und wir möchten in ihm bleibend konspirieren, mitatmen.
Die göttliche Trauer, wenn wir uns abwenden von Gott und uns selbst. Wenn der Sex zum Werkzeug wird oder zur Waffe. Wenn im Zeugen jeden neuen Menschenlebens das Wasserzeichen der Lust sichtbar würde. Und genau das genetisch immer die erste Figur wäre: die Freude. Dann erst folgten Schmerz und Schutz. Und das Angebot der Korrektur – die Geburt der Versöhnung.
Was geschähe, wenn wir eingewoben wären in einen Gott, in eine Kirche, in der wir uns miteinander so lange an diesem Leben freuen, bis wir die andere Communio kosten und ausatmend erlöst aus der Welt gehen. Wenigstens in der Fantasie. Ein Aufatmen ginge durch die Welt. Man könnte das Evangelium schmecken, riechen, tasten, lecken. Man könnte der Kirche eventuell wieder zuhören, wenn sie den Mund öffnet, um über Sexualität und Lust zu sprechen. Niemand müsste Gottes Fratze aussperren – die Schlange hätte verloren. Kleine, entwicklungsbedingte Gottheiten würden ersetzt. Und Liebende bekämen einen Schlüssel für ihre Ortskirche.
Thomas Hirsch-Hüffell ist Pastor der Nordkirche (DE). Von 1997 bis 2018 leitete er das Gottesdienst-
institut in Hamburg. Heute ist er freischaffend und gibt als Gottesdienstvisionär Kurse im deutschen Sprachraum. Zudem betreibt er den Blog «Ungläubiges Staunen». hirsch-hueffell@web.de
Blog «Ungläubiges Staunen». Seit 2016 schreibt Thomas Hirsch-Hüffell auf seinem Blog inspirierende, freche und nachdenkliche Texte zu Erlebtem und Gedachtem. unglaeubigesstaunen.wordpress.com
Vor sechs Jahren zerbrach Benjamin beinahe an der Lüge, die sein Körper für ihn darstellte. Der Entscheid für die Geschlechtsangleichung war ein Entscheid für ein Leben mit Zukunft.
Von Sara Stöcklin
Benjamin hat heute die Wahl, ob und wem er erzählt, dass er früher von seinem Umfeld als Frau wahrgenommen wurde. Sein Gang, seine Stimme, seine Kleidung, sein Äusseres – breite Schultern, kräftige Oberarme, dichter Bart – lassen nichts davon erahnen. Vor fünf Jahren war das anders. Auch damals, als siebzehnjähriger Gymnasiast, trug er Männerkleidung und einen Männerhaarschnitt. Aber sein Name, seine Brüste, seine Stimme suggerierten der Gesellschaft, dass er eine Frau sei. Und als er mit dieser Situation nicht mehr leben konnte, musste er sich outen. Musste seiner Mutter unter Tränen eröffnen, dass er sich als Mann wahrnehme und den Weg der Transition gehen wolle. Musste vor seine Schulklasse hinstehen und sich den Fragen seiner Kolleginnen stellen. Musste mit der Schulleitung besprechen, welche Garderobe und welche Toilette er fortan benutzen sollte. Musste sein Umfeld bitten, ihn mit neuem Namen anzusprechen.
Es kam nicht völlig überraschend. Benjamin entsprach offenkundig nicht dem klassischen Frauenbild. Das Thema Transidentität war zudem in der Familie präsent, seit seine Schwester eine Arbeit dazu geschrieben hatte und monatelang am Küchentisch darüber ausgetauscht wurde. Doch viele hatten gemeint – vielleicht auch gehofft – Benjamin sei «nur» lesbisch oder bisexuell. Das hätte weniger einschneidende Konsequenzen gehabt. Aber Benjamin hatte keine andere sexuelle Orientierung. Er hatte ein anderes inneres Geschlecht. Und mit dem Coming-out fiel die Entscheidung, sein Äusseres an sein Inneres anzupassen. Für seine Mutter war sofort klar, dass sie ihn unterstützen würde. Auch bei medizinischen Eingriffen, welche ihre Einwilligung erforderten: «Wenn das dein Weg ist, gehe ich ihn mit dir. Ich unterschreibe alles, was du brauchst.» Und sie tat mehr als das. Als die emotionale Aufregung, die mit jedem Coming-out verbunden war, zu gross wurde, schickte sie einen Brief an alle Bekannten und Verwandten der Familie. «Ich dachte immer, ich hätte drei Töchter», schrieb sie. «Nun habe ich herausgefunden, dass ich zwei Töchter und einen Sohn habe.»
Hosen mit Löchern
«Es fällt mir schwer, dich mir als Frau vorzustellen», sage ich zu Benjamin. Ich habe ihn als Mann kennengelernt und sehe ihn oft an der Theologischen Fakultät Zürich, wo er seit dem Herbst studiert. Er lacht: «Mir auch. Wenn ich an meine Kindheit und mich selbst zurückdenke, sehe ich einen Jungen mit langen Haaren vor mir.» Benjamin hat sich selbst nie als Mädchen wahrgenommen. Bewusst wurde ihm sein Anderssein erstmals im Kindergarten.«Abgesehen vom ersten Kindergartentag, an dem ich – zum letzten Mal in meinem Leben – ein Kleid anhatte, trat ich immer sehr burschikos auf. Meine Hosen hatten Löcher und ich trug Bubenshirts.» Obwohl er in einem Frauenhaushalt mit zwei Schwestern aufwuchs, eckte er mit seinem Verhalten in Mädchengruppen an. «Das führte dazu, dass mich andere Kinder öfter fragten, ob ich lieber ein Bub wäre. Und ich antwortete: Ja klar!»
Dass er tatsächlich ein Bub sein oder werden könnte, lag ausserhalb seiner Vorstellungskraft. Bis er zwölf war und seine ältere Schwester einen Kollegen mit nach Hause brachte, der trans war. Plötzlich bekam das Phänomen, das Benjamin an sich selbst wahrnahm, einen Namen. Und er erfuhr, dass es nicht nur im Fernsehen oder in Amerika Geschlechtsangleichungen gab, sondern auch in der Schweiz.
Zur gleichen Zeit verliebte er sich zum ersten Mal in ein Mädchen. «Ich war irritiert und konnte meine Gefühle nicht einordnen.» Nie verortete er sich selbst als lesbisch, konnte sich nicht vorstellen, als Frau mit einer anderen Frau eine Beziehung zu führen. «Da gerade Fasnacht war, gaben wir einen ganzen Tag lang vor, ich sei ein Junge, und gingen Hand in Hand durch die Stadt.» Rückblickend sagt Benjamin: «Von dort an wusste ich, dass ich trans war. Ich hatte Tagträume, in denen ich von zuhause weglief, in einem anderen Land die Transition vollzog und als erwachsener, muskulöser Mann zurückkehrte. Gleichzeitig versuchte ich, solche Gedanken abzuschütteln und meine Empfindungen zu unterdrücken.»
Coming-out
Es brauchte fünf weitere Jahre, bis Benjamin sich und anderen offen eingestehen konnte, was er schon längst wusste. Jahre, in denen er fast an sich selbst zerbracht. In denen er seinem Körper, der nicht die Wahrheit über ihn sagte, Schmerzen zufügte. In denen die Belastung so gross wurde, dass er eine Psychotherapie in Anspruch nahm, aber nicht einmal dort aussprechen konnte, was er fühlte. Er fürchtete sich davor, einen Stempel aufgedrückt zu bekommen, sich etwas einreden zu lassen.
Eines Tages sass er, siebzehnjährig und im Justin-Bieber-Look, mit seiner Familie in einem Café. Und wurde von einem Mädchen am Nebentisch so offenkundig angeflirtet, dass es auch seine Mutter bemerkte. «Eigentlich total unfair», sagte er zu ihr. «Wenn dieses Mädchen wüsste, dass ich kein Junge bin, hätte sie wahrscheinlich überhaupt kein Interesse an mir.» Diese Worte aus seinem eigenen Mund machten Benjamin klar, dass es so nicht weitergehen konnte. Er verschanzte sich in seinem Zimmer, recherchierte stundenlang und schickte schliesslich – um zwei Uhr morgens – seinen besten Freundinnen einen Youtube-Clip über Transmenschen. Ohne Kommentar. Es war sein Coming-out.
Von Gott gewollt
«Manchmal werde ich gefragt: Warum hat Gott dich nicht von Anfang an klar als Mann erschaffen? Ich kenne die Antwort nicht. Aber ich habe die Gewissheit, dass Gott will, dass ich lebe. Und ohne die Transition hätte ich nicht mehr leben können.» Mit Fünfzehn schien ihm die eigene Zukunft als ein schwarzes Loch, das er nicht erleben wollte. Mit der Möglichkeit, die er sich selbst zugestand – der Möglichkeit, als Mann zu leben – erwuchsen aus dem schwarzen Loch Hoffnungen. Der Wunsch, Kinder zu haben, zu studieren, Dinge zu erreichen. Und es wuchs Glaube. «Ich habe früher schon geglaubt, aber der Glaube bedeutete mir nichts. Mit meinem Coming-out habe ich mich als von Gott gewollt und geliebt erfahren. Ich begriff, dass ich Platz habe in Gottes Schöpfung.» Er staunt, wenn er mit Transmenschen aus Freikirchen spricht und erfährt, welche Ängste sie teilweise auszustehen haben – bis hin zur Vorstellung, ihre Gefühle kämen vom Teufel. «Als Reformierter liberaler Prägung sind mir solche Vorstellungen fremd. Vor allem aber könnten sie meiner persönlichen Erfahrung nicht konträrer gegenüberstehen. Es schmerzt mich mitanzusehen, welches Leid dadurch verursacht wird.»
Benjamin ist überzeugt, dass es eine theologische Auseinandersetzung, eine Diskussion über ethische Aspekte der Transition braucht. Aber noch viel wichtiger ist ihm die Begegnung. Er wünscht sich von kirchlichen Mitarbeitenden, dass sie Transmenschen offen begegnen, statt Gefühle der Unsicherheit zu verstärken. «Dass sie fragen: Was hilft dir in dieser Situation? Welche Unterstützung brauchst du?» Und vor allem ist es ihm ein Anliegen, dass Transmenschen als das gesehen werden, was sie in erster Linie sind – Menschen, die zu unseren Nächsten werden können.
Benjamin Hermann (22) studiert im zweiten Semester Theologie an der Universität Zürich. Neben seinem Studium gibt er Religionsunterricht und arbeitet mit Kindern mit Beeinträchtigung. Vor fünf Jahren hatte Benjamin Hermann sein Coming-out.
benjamin.hermann@uzh.ch
Information und Beratung zu Themen rund um Transidentität bietet das Transgendernetwork Switzerland auf www.tgns.ch
Es ist nicht einfach, seine eigene Identität zu finden. Das gilt besonders für Jugendliche, die nicht sicher sind, ob sie im richtigen Geschlecht geboren worden sind. Der Wiener Psychotherapeut Hans-Peter Bangerl begleitet Kinder und Jugendliche durch uneindeutige Welten.
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger: Sie arbeiten mit Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsidentitätsstörungen. Wie entstehen solche Störungen und gibt es eine Entwicklung?
Hans-Peter Bangerl: In achtzig Prozent der Fälle sind Mädchen betroffen. Das hat in den letzten zehn Jahren sprunghaft zugenommen. Der Anteil der Jungs hat sich hingegen kaum verändert. Die Störung tritt meist in der Pubertät auf als Teil einer entwicklungspsychologischen Identitätskrise. Allerdings finden Jugendliche in dieser Phase im Internet Selbstdiagnose-Anleitungen: «Wenn dich stört, dass dein Busen wächst, oder wenn dir deine Menstruation unangenehm ist, dann bist du transgender.»
TS: Dann spielt also auch das Umfeld eine Rolle für die Entwicklung einer transsexuellen Identität?
HPB: Bei einigen Mädchen sind häufig noch kurz vor der Krise und dem entstehenden Wunsch, als Junge zu leben, Facebook-Einträge mit langen Haaren und lackierten Fingernägeln zu sehen. Manche dieser Identitätskrisen entstehen auch in einem Kontext, wo Mädchen sich als sozial ausgegrenzt erleben. Mit ihrem Wunsch, im anderen Geschlecht zu leben, erhalten sie innerhalb einer Klassengemeinschaft eine neue soziale Wichtigkeit und Zugewandtheit.
TS: Welche Hypothesen haben Sie für die rapide Zunahme?
HPB: Die Rollen haben sich verwischt. Mädchen, Frauen und Jungen haben meines Erachtens keine echten Rollenbilder mehr, aber es gibt Geschlechterunterschiede. Natürlich ist es schwierig, das heute so zu sagen. In meiner Praxis sehe ich jedoch, wie diese Uneindeutigkeit grosse Schwierigkeiten macht – vor allem bei Mädchen. Sie erhalten durch die Gesellschaft keine klaren weiblichen Vorbilder.
TS: Die Supermodels in TV-Shows werden kaum taugen zum weiblichen Rollenmodell…
HPB: Das ist viel zu oberflächlich. Als Frau möchte man sich damit nicht identifizieren. Ich möchte mich auch nicht mit Bodybuildern identifizieren. Aber anscheinend ist das Männerbild immer noch stabiler als das Frauenbild. Deshalb ist der Anteil der Jungs gering. Natürlich gibt es auch eine Gruppe von Mädchen und Jungen, die schon früh burschikos bzw. mädchenhaft agieren und von niemandem gedrängt werden. Da sind weder Diagnose noch Verfahren ein Problem. Ein Problem haben wir bei diesem Gros an pubertären Identitätskrisen.
TS: Wie sieht die Entwicklung bei den pubertären Identitätskrisen aus?
HPB: Einige Mädchen finden den Weg zurück. Viele von ihnen jedoch nicht. Da ist auch die Gesetzgebung mitschuldig, die ab 16 Jahren gegengeschlechtliche Hormoneinnahme erlaubt und damit der Druck auf die Behandler steigt. Daneben gibt es Jugendliche mit schweren psychischen Störungen wie Depressionen, Psychosen oder Traumatisierungen. Bei ihnen herrscht die Hoffnung, dass eine Geschlechtsumwandlung alle psychischen Probleme beseitigen könnte. Wenn es gelingt, die Basiserkrankung in den Hintergrund zu rücken, löst sich manchmal der Wunsch, im anderen Geschlecht weiterleben zu wollen. Deshalb ist es für alle Gruppen wesentlich, dem Prozess eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren zu geben.
TS: Sind die Jugendlichen, die geschlechtsangleichende Schritte machen, auf längere Sicht zufrieden mit ihrem neuen Geschlecht?
HPB: Wir haben diesen Hype in Österreich seit sieben Jahren. Die ersten Operationen finden erst jetzt statt. In ungefähr zehn Jahren können wir diese Frage beantworten.
TS: Gibt es transsexuelle Menschen, die bewusst auf geschlechtsangleichende Behandlungen verzichten?
HPB: Das gibt es. Die Konzepte von Menschen, die sich als non-binary verstehen, gehören zu einem blühenden Strauss von Ideen, die noch so neu und noch nicht erforscht genug sind, um damit Kategorien zu bilden. Ich deute dies als Zeichen einer Unsicherheit, ein Zeichen dafür, etwas ganz Besonderes sein zu wollen. Das ist oft wichtiger als Geschlecht oder Sexualität. Die Position in der Peergroup ist entscheidend.
TS: Hätten transsexuelle Menschen eine «Botschaft» für die Gesellschaft?
HPB: Ich würde diese Botschaft so lesen: «Liebe Menschen, wehret den Auflösungen sozialer Strukturen!» Ich erlebe, dass sich vieles einfach auflöst – Familien, Jugendgruppen, Rollenbilder. Ich glaube, das schafft mehr Probleme, als es vermeintlich eine positive Entwicklung sein kann. Mit dieser Uneindeutigkeit können vielleicht hoch differenzierte Menschen umgehen. Viele andere aber nicht.
TS: Was sind hilfreiche Begleitumstände für eine gute Entwicklung?
HPB: Alles, was die Ursprungsidentität festigt und stärkt, ist positiv. Das zeigt die Entwicklungspsychologie. Bevor sich Jugendliche in der Pubertät dem anderen Geschlecht zuwenden, muss eine männliche oder weibliche Identität ausgebildet werden. Deshalb gibt es geschlechtergetrennte Gruppen, die sich zusammenfinden und Dinge ausprobieren. Die Forschung zeigt: Kinder, die in einer Transgender-Gruppe sind, neigen eher dazu, diese Selbstdiagnose in einer Krise anzunehmen. Sie unterstützen sich in Ihrer Symptomatik oder setzen Mitglieder unter Druck. Es wird über Hormoneinnahme und über Operationstechniken diskutiert.
TS: Kirchliche Jugendgruppen – unter anderem der Cevi – funktionieren geschlechtergetrennt. Ist das ein sinnvolles Modell?
HPB: Ich finde es sehr gut. Es geht dabei nicht um eine moralische Frage. Aber für ihre Entwicklung ist es zentral, die eigene Identität in einer Gruppe zu festigen. In vielen Kulturen sind Mädchen und Jungen zu gewissen Zeiten getrennt. Mit einem Ritual werden Sie wieder zusammengeführt.
TS: Die Konfirmation wird an manchen Orten als rite de passage zum Erwachsenenalter – und auch als Initiationsritual der Mädchen und Jungen – verstanden.
HPB: Das wäre eine sinnvolle neue Variante dieser kirchlichen Riten. Und man könnte dann auch die Sexualität einbringen: Was ist mit deiner sexuellen Identität? Was für körperliche Bedürfnisse habe ich? Diese Fragen sollten im Zusammenhang mit Übergangsritualen zum Erwachsenwerden eine wichtige Rolle spielen.
Mag. Hans-Peter Bangerl ist Psychotherapeut mit eigener Praxis in Wien. Er hat sich spezialisiert auf Identitätsstörungen, Intergeschlechtlichkeit bei Kindern und Jugendlichen, Sexualität und Transidentität. Zu diesen Themen ist er auch in die Forschung involviert. hp.bangerl@gmail.com
Trotz Entkriminalisierung, Entpathologisierung und Entmoralisierung können sich Trans-Personen nicht sicher sein, ob sie in kirchlichen Kontexten Anerkennung finden. Mathias Wirth setzt sich für eine trans-positive Theologie und Ethik ein.
Von Mathias Wirth
Auf den ersten Blick besteht ein scharfer Kontrast zwischen einem «Doing Gender» in der Genesis («als Mann und Frau schuf er sie») und einem «Undoing Gender», das Judith Butler mit Transgender verbindet. Auf den zweiten Blick erscheint Geschlechtlichkeit sowohl biblisch wie empirisch als «queer space», also als komplexes und vielfältiges Geschehen. Denn offensichtlich verbinden sich mit den Polen männlich und weiblich mannigfaltige Praktiken. In diesem Kontext will theologische Ethik auf die Gewaltförmigkeit religiöser Soll-Suggestionen aufmerksam machen, die anderen Menschen vorschreiben, wie sie die Körper ihrer Geschlechtlichkeit zum Ausdruck bringen. Besonders die Kirchen der Reformation haben avant la lettre «queer spaces» durch Rekurs auf die Rechtfertigungslehre oder Gerechtigkeitsethiken geschaffen, indem die einzelne Person neu berücksichtigt wurde. Dadurch bleiben Ausschlusspraktiken, auch gegen trans- und nichtbinäre Körper, kritisierbar.
Transgender und das Leben, wie es ist
Der Begriff Transgender, ist eine relationale Kategorie, die auf eine bestimmte Anerkennung zielt. Im diversen Raum des Geschlechtlichen wird mit trans ein Körper und eine Psyche bezeichnet, die auf dynamische Weise mit essentialistischen (Geschlecht ist unwandelbar) oder binären (Geschlecht ist unverwechselbar) Platzanweisungen umgeht. Personen, die sich als trans identifizieren, orientieren sich oft deutlicher an einem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt nicht zugewiesen wurde, als Personen, die sich als nicht-binär oder gender-nonconforming bezeichnen, also keine kontinuierliche Zuordnung zu einem vorgegebenen Geschlecht vornehmen. Gemeinsam ist ihnen die Erfahrung von Gewalt, die subtil oder aggressiv eine konformistische Ästhetik des Körpers und des Geschlechtlichen einfordert. Die inadäquate Überzeugung, nach der nur konstante Zweigeschlechtlichkeit existiere, führt zu «strikt binären Anweisungen» (Niklas Luhmann), deren Missachtung oft mit Gewalt, zum Beispiel Ausgrenzung, quittiert wird.
Transgender und Christentum
Es ist konstruktiv interessant, wenn das Christentum einerseits die Berücksichtigung marginalisierter Personen ins Zentrum der moralischen Überzeugung rückt, andererseits moralische Erfahrungen der Marginalisierung erzeugt. Die postulierte Solidarität mit den Marginalisierten bewahrt offenbar nicht vor blind spots, die besonders solche Körper und Praktiken betreffen, die das Mainstream-Christentum mit Tabus belegt. Transvestiten, Transgender, aber auch nicht-binäre Personen werden im Christentum, obwohl Leben ausserhalb gängiger Norm in verschiedenen biblischen Texten positiven Ausdruck findet, zu ganz anderen. Eine Skandalisierung von Trans-Personen, die im Christentum auch durch die Neigung zum Androzentrismus und Geschlechtsessentialismus verursacht wird, führt regelmässig dazu, dass Trans-Personen normativ unbeachtet bleiben. Religionen erscheinen so im Kontext der Geschlechtlichkeit als «Normalisierungsmacht», wie Michel Foucault betont. Gewaltförmige Identitätsvorstellungen und diskriminierende Blicke auf als widerspenstig empfundene Körper können aber auch wieder abgewendet werden. Auch dafür liefert nicht nur das Christentum positive Beispiele.
Transgender und Ethik
Im Anschluss an den grossen reformierten Theologen Friedrich Schleiermacher (1768–1834) hat James M. Brandt das Profil der reformierten Ethik durch Hinweise auf transversales Denken und Handeln charakterisiert. Eine reformierte Ethik sei demnach besonders responsiv, lässt sich also faktisch durch die Anderheit der anderen treffen und verändern. Sie sei inklusiv und damit ebenfalls auf Transformationen angelegt, weil sie sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens beziehen will. Reformierte Ethik sei dynamisch, weil die biblischen Texte, die als Hauptquelle firmieren, dialogisch erschlossen werden. Schliesslich sei sie sozial und an gesellschaftlicher Veränderung interessiert. Mit der Vordenkerin der Queer Theology, Marcella Althaus-Reid (1952–2009), kann man eine so formatierte Ethik auf die Trans-Frage übertragen, insofern eine Praxis der «Gerechtigkeit, Gleichheit und [des] Friedens» besonders mit dem sozialen Aspekt der reformierten Ethik verbunden ist. Selbst wenn diese Werte biblisch-theologisch begründet werden und eine entsprechende Ethik parochial bliebe, kann sie doch die Konvivenz innerhalb der Kirchen und damit das Leben von Trans-Personen in sich als christlich verstehenden Familien, Gemeinden und Institutionen ändern.
Zur «Aussicht auf den Schutz menschlichen Lebens» (Zygmunt Bauman) vor Missachtung leistet die reformierte Theologie zugunsten von Trans-Personen einen genuinen Beitrag, weil sie die notorische Transformation, die menschliche Geschichte und Körper charakterisiert, im Sinne von Auffaltung und nicht von Abspaltung versteht.
Prof. Dr. Mathias Wirth ist Assistenzprofessor (mit tenure track) für Systematische Theologie/Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören u.a. Alteritäts- und Anerkennungsdenken, Medizinethik, Transgender und Ethik, Ethik und Eschatologie. mathias.wirth@theol.unibe.ch
Lieb Noa, oder die Sache mit dem Sternchen
Eigentlich versuche ich, ein aufmerksamer Mensch zu sein. Wenn ich sehe, wie jemand auf den Bus hetzt, dann halte ich die Türe auf. Wenn eine Freundin an ein Vorstellungsgespräch eingeladen ist, wünsche ich ihr vorher Erfolg. Und wenn ich mit meinen Kindern im Park picknicken, dann hinterlassen wir keinen Müll, den jemand anders wegräumen müsste. Doch kürzlich hatte ich so einen Moment, da fühlte ich mich schrecklich ignorant. Für die Organisation einer – derzeit leider digitalen – Veranstaltung schrieb ich mehrere Leute zusammen im gleichen Verteiler an. In der Regel denke ich mir dafür eine individuelle Anrede aus. Also nicht einfach: Liebe Schreiberinnen und Schreiber. Sondern zum Beispiel: Liebe Dichterinnen und Poeten. Auf jedenfall kam flugs schon eine Antwort auf meine Mail.
«Da ist ein kleines Detail», hiess es dort. «Es sind nicht nur Dichter und Poetinnen, die da geschrieben haben. Ich identifiziere mich non-binär (also nicht Frau oder Mann) und fände es schön, wenn das auch so abgebildet würde.» Das Anliegen war mir total verständlich, wie ich in meiner Antwort ausformulierte. Dichter*innen, Poet*innen – eigentlich ist es doch nur logisch, das auch auf der sprachlichen Ebene das Sternchen zwischen den Geschlechtern sitzt. Nachdem ich die Mail abgeschickt hatte, kam mir es siedeheiss in den Sinn. Ich hatte geschrieben: Liebe Noa. Bäm! Meine doppelte Trampeligkeit, die war mir ziemlich peinlich. Nun weiss ich, dass vergeschlechtlichte Pronomen wie «ihr» oder «sein» nicht immer passend sind. Und das es bei den Anreden ziemlich viele ungeschlechtliche Möglichkeiten gibt wie: Hoi Noa. Hallo Noa. Oder meine Favoritin: Lieb Noa. Und so war ich dann auch sehr erleichtert, als ich als Reaktion auf meinen Lapsus ebenfalls eine Ansammlung von Sonderzeichen zurückerhielt. Nämlich ein :-)
Seraina Kobler ist 1982 in Locarno geboren. 2017 gründete Sie die Agentur Federa, wo sie als Autorin, Beraterin und Lektorin tätig ist. Seraina Kobler studierte Kommunikation und Literarisches Schreiben und arbeitete über mehrere Jahre als Redaktorin bei verschiedenen Zeitungen. Ihr erster Roman «Regenschatten» erscheint im September 2020. www.serainakobler.ch
Risse im Fundament
Das Fundament meines freikirchlich geprägten Glaubens war die persönliche Beziehung zu Gott. Ich habe Gottes Gegenwart gespürt, wenn gesungen wurde, und die Beziehung zu ihm gepflegt wie zu einem Freund oder Vater.
Durch meine Religionslehrerin am Gymnasium erhielt ich erstmals Einblick in die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Glauben. Zuerst war ich irritiert, dann neugierig.
Natürlich blieb die Krise nicht aus, als ich mit dem Theologiestudium begann. Religiosität und ihre Phänomene zu erforschen, mich selbst und meinen Glauben auf einer Landkarte verschiedenster Trends und Traditionen zu verorten, warf Fragen auf. Wie stark definiert meine religiöse Prägung mein Erleben von Gott?
Eine Zeitlang konnte ich nicht mehr beten. Ich merkte: Mein erlebnisorientierter Glaube trägt mich nicht. Diese Erkenntnis war schmerzhaft, aber wichtig. Es gibt kein Zurück zur früheren Unbeschwertheit, aber es gibt Raum für Neues. Ich fühle mich frei, mich auf einen Prozess einzulassen und neu zu fragen: Was steht eigentlich in der Bibel? Und was bedeutet das für mich?
Wohin mich dieser Prozess führen wird, weiss ich nicht. Aber ich freue mich darauf. Und hoffe, es geht ein reifer, reflektierter Glaube daraus hervor, der die Auseinandersetzung aushält.
