Liebe Leser:innen
«Weck die tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit» singen Kirchenleute seit 1932, als das Lied angesichts des nationalsozialistischen Aufstiegs wiederauflebte. Fast hundert Jahre später wurde «Sicherheit» zu einem gesellschaftlichen Megatrend erklärt. Was nun – Aufbruch ins Unsichere oder stabiler Stillstand?Sicher ist im Grunde nur eines: Die Welt ist eine andere geworden und löst bei vielen Menschen Unsicherheit aus. Stabilität ist eine Illusion – das lehrt das Leben. Deshalb gilt der Weckruf für die Kirche wohl noch immer. Sie soll aufwachen und aufbrechen aus Sicherheiten. Aber sie kann auch Sicherheit vermitteln. Nicht mehr durch fixe, unverrückbare Inhalte. Sondern im tiefen Wissen, wie es einer Gemeinschaft von Menschen gelingt, Lösungen in unsicheren Zeiten zu finden.
Thomas Schaufelberger, Leiter A+W
Die Kirchen bemühen sich um Innovation und Transformation und reagieren damit auf aktuelle Herausforderungen. Interne Anpassungen der Strukturen werden aber nur zögerlich angepackt. Ein Essay von Sandra Bils zum Sicherheitsbedürfnis in der Kirche und der Notwendigkeit von Veränderungsprozessen.
Von Sandra Bils
In den letzten Jahren haben Kirchen zunehmend Innovations- und Transformationsprozesse in Gang gesetzt. Damit reagieren sie auf die veränderten Bedingungen und Herausforderungen, mit denen die Kirchen in Zukunft noch verstärkter umgehen müssen, wie Relevanzverlust, Mitgliederschwund, Einbruch finanzieller Ressourcen und Nachwuchsmangel im haupt- und ehrenamtlichen Bereich. Doch gerade die notwendigen internen Anpassungen, die kirchliche Strukturen und deren Arbeit zukunftsfähig aufstellen und die die Kirche damit auch für Aussenstehende attraktiver, auffindbarer und relevanter machen sollen, lösen innerkirchlich mitunter massive Unsicherheit und Verunsicherungen aus.
Die genannten Erfahrungen von Verlust und erzwungener Veränderung im kirchlichen Bereich sind mannigfaltig: Neben dem grundsätzlichen Relevanzverlust durch weltlichen Machtverlust (Abbruch des «volkskirchlichen Gepräges») und geistlichen Autoritätsverlust (Schwinden des Einflusses in gesellschaftlichen Diskursen) sowie dem konkreten Resonanzverlust auf lokaler Ebene (Einbruch der Nachfrage gemeindlicher Angebote), führen der damit zusammenhängende Handlungsdruck und die strukturellen Transformationen zu massiven Veränderungen.
Die vertraute Kirche wird sterben
Der englische Religionswissenschaftler und Säkularisierungsforscher Callum Brown schrieb bereits im Jahr 2009 in seinem Buch «The Death of Christian Britain – Understanding Secularisation» den aufrüttelnden Satz: «Britain is showing the world how religion as it has known it can die.» (An Grossbritannien kann die Welt sehen, wie Religion, so wie wir sie bisher kannten, sterben kann, SB). Auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel Niederlanden, lassen sich ähnlich drastische Veränderungen im kirchlichen Bereich wahrnehmen. In ihren einschneidenden Erfahrungen von Sterben und Abbruch kirchlicher Formen und Formate sind uns diese beiden Länder einige Jahre voraus. Dennoch zeigen diese vergleichbaren Dynamiken und Zukunftsszenarien deutlich die Notwendigkeit von Anpassungen und Transformationen auf. Auch die sogenannte Freiburger Studie, die im Jahr 2018 in Deutschland durchgeführt wurde und die Lebenssituation und Einstellungen von Katholik:innen und Protestant:innen erhob, um daraus Schlussfolgerungen für die Zukunft der Kirchen zu ziehen, prognostiziert einen weiteren Mitgliederschwund und einen massiveren Rückgang der finanziellen Mittel. Sie empfiehlt daher eine verstärkte Innovationsbereitschaft und eine Anpassung der kirchlichen Strukturen und Angebote an die Bedürfnisse der Menschen. Es ist somit keine Frage, ob Kirche sich verändern muss, sondern nur wie und auf welche Art und Weise.
Innovation und Exnovation
Gemeinden und christliche Initiativen in Deutschland haben lokal durch neue Formen von Kirche prägende innovative Erfahrungen gemacht. Kirche blüht hier in bisher unbekannten Ausprägungen neu auf: christliche Initiativen im Co-Working-Space, Communitys im Plattenbau, digitale Kirche oder Gemeinden, die ein eigenes Café betreiben. Dazu kommen von verschiedenen deutschen Landeskirchen angeregte Strukturprozesse, die in sogenannten Erprobungsräumen wegweisende Erfahrungen mit Experimenten machen, um die einzelnen Initiativen in ihrer innovativen Arbeit strukturell zu unterstützen und zu fördern. Diese beiden Dynamiken sind schwerpunktmässig durch die Fresh Expressions of Church aus Grossbritannien und die Pioniersplekken in den Niederlanden inspiriert, zwei Ländern, in denen, wie beschrieben, Kirche bereits länger massivem Veränderungsdruck ausgesetzt ist und daher auch bereits erprobte Good-Practice-Erfahrungen mit Lösungsansätzen sammeln konnte, diesen umfassenden Verschiebungen und Abbrüchen zu begegnen.
Neben der Innovation tritt nun auch zunehmend die Exnovation als Form der Veränderung auf. Wenn Innovation eher die Einführung neuer Ideen, Formen und Formate sowie Prozesse beschreibt, zielt die Exnovation auf den bewussten Abschied von veralteten oder nicht mehr zeitgemässen Traditionen ab. Exnovation lässt sich somit als taktisches Verlernen oder Weglassen, als strategisches Ausschleichen und Beenden fassen. In diesem Bereich sind die Kirchen derzeit noch sehr zurückhaltend und entscheiden sich eher für Transformationsschritte, die vordringlich additiv innovieren, als zu exnovieren und bisherige Formen und Formate zu verabschieden.
Rezeption von Veränderung
Gerade bei klassischen Gemeindemitgliedern mit eher traditionellem Kirchenbild mag ein zweifacher Veränderungs(ein)druck aufkommen: Einerseits eine Verunsicherung aus dem grundsätzlichen Schrecken über den Abbruch, dass Bisheriges, Vertrautes und Wertgeschätztes und somit auch Sicherheit- und Haltgebendes nicht mehr wie gewohnt vorhanden ist oder sein wird. Anderseits eine weitere Verunsicherung, in der Innovation und Exnovation selbst als zusätzliche Disruption wahrgenommen werden. Oftmals werden diese strategischen Massnahmen nicht als Reaktion oder Versuche der Problemlösung verstanden, sondern als vermeidbare zusätzliche Unruhe, die es nicht brauche. (Viele Beharrungskräfte und konservierende Behinderungen von notwendigen Veränderungen können auf diese Missinterpretation zurückgeführt werden).
Veränderungsdynamiken, egal ob innovativ oder exnovativ, können bei manchen Gemeindemitgliedern Ängste und Sorgen auslösen, insbesondere wenn sie als Bedrohung der eigenen bisherigen Praxis sowie Überzeugungen und Traditionen wahrgenommen werden. Der verständliche Wunsch nach Sicherheit, Kontrolle und Vorhersehbarkeit in einer Welt voller Unsicherheiten ist ein natürliches Bedürfnis. Veränderungen, die dieses Grundbedürfnis beeinträchtigen, werden daher als Gefahr gewertet, die es zu verhindern gilt. Dies gilt ganz besonders für den kirchlichen Bereich, in dem viele Menschen nach Halt und Orientierung suchen.
Veränderungen verstehbar machen
«Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.» (Hebr 13,14). Angesichts dieser Verunsicherung liegt die Herausforderung in der Leitung von Kirche daher darin, die jetzigen und zukünftigen Veränderungen der Organisation und Institution Kirche verstehbarer und transparenter zu machen. Auf diese Weise ist dieser Wandel besser nachvollziehbar und darauf abzielende Prozesse und Strategien der Kirchenleitung werden in ihrer Relevanz besser verstanden und nachvollzogen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch eine verstärkte Reflexion der Rolle von Kirche als Bewegung (neue, alternative und agilere Formen von christlicher Gemeinschaft) und Kirche als theologische Grösse (Unsichtbare Kirche, Gemeinschaft der Heiligen). Diese Bilder sind den äusseren Veränderungen weniger stark unterworfen und daher resilienter. Auch eine verstärkte geistliche Auseinandersetzung zu den unzähligen biblischen Geschichten zu Wandel, Umkehr, Exodus könnte weiterführend sein.
Prof. D.Min. Sandra Bils ist evangelische Pastorin und theologische Referentin bei «midi», der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung in Berlin. Die promovierte Theologin hat an der CVJM-Hochschule Kassel eine Honorarprofessur für missionarische Kirchenentwicklung inne. sandra.bils@mi-di.de
Prof. Andres Pfister befasst sich mit der Führung und Veränderungen in der Arbeitswelt. Im Interview zeigt er, weshalb Unsicherheit zum Kern heutiger Arbeit geworden ist. Dennoch gibt es Wege, sichere Prozesse einzurichten: zum Beispiel «machen» und «ausprobieren».
Von Thomas Schaufelberger
Thomas Schaufelberger (TS): Das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) hat kürzlich Megatrends publiziert, darunter ist der Megatrend «Sicherheit». Weshalb wird «Sicherheit» zum Megatrend aus Ihrer Sicht?
Andres Pfister (AP): Das ist nicht verwunderlich. Unser Leben ist einer grossen Veränderungsdynamik unterworfen. Die lange Phase der Stabilität, die wir im Kalten Krieg und danach hatten, ist eher ungewöhnlich und nicht normal. Wir haben jetzt grosse Veränderungen: Klima-Veränderungen, Veränderungen in der Zusammenarbeit von Menschen, technologische Veränderungen. Die bipolare Welt im Kalten Krieg und die multipolare Welt nachher haben sich aufgelöst, Krieg ist ein reales Ereignis geworden. Familienstrukturen und Geschlechteridentitäten kommen ebenfalls in Fluss. Die Gesellschaft ist also in einem dynamischen Umbruch. Das generiert Unsicherheit. Es ist zum Beispiel unklar geworden, wie ich meine eigene Zukunft beeinflussen kann. Wenn 150-jährige Banken nicht mehr gerettet werden können, das verunsichert. Und es ist nicht nur ein Gefühl. Die geopolitische Lage ist tatsächlich unsicherer geworden. Mit der Pandemie hatten wir in den letzten drei Jahren ein erstmaliges, kollektives und weltweites einschneidendes Erlebnis von Unsicherheitserfahrung erlebt.
Das generiert die Sehnsucht nach Vorhersagbarkeit, klaren Strukturen und Sicherheit. Die Schweiz ist ein enorm sicherheitsliebendes Land und Spitzenreiterin bei der Unsicherheitsvermeidung. Wir wollen möglichst viel Sicherheit bei gleichzeitig grösstmöglicher individueller Freiheit.
Was passiert mit Menschen beim Arbeiten, die ständig damit konfrontiert sind, dass ihr Arbeitsplatz, ihr Beruf oder ihr Arbeitgeber unsicher ist?
AP: Sicherheit ist uns wichtig. Es geht dabei um die beiden Grundbedürfnisse der Orientierung und Kontrolle des eigenen Lebens. Diese Bedürfnise werden in einer dynamischen Arbeitsumgebung tangiert. Was passiert mit mir? Ich weiss nicht mehr, was ich machen muss, um erfolgreich zu sein, und die Veränderungen sind nicht von mir steuerbar. In dieser Situation nehmen Menschen auf der einen Seite wahr, dass Veränderungen passieren, und sie fragen sich gleichzeitig, ob sie die Ressourcen und Strategien haben, um mit den veränderten Anforderungen umzugehen. Ein Mensch, der selbst überzeugt ist, alle Kompetenzen mitzubringen, die es braucht, hat kaum Stress. Einschneidender ist es, wenn ich keine Erfahrungen mit solchen Unsicherheiten habe oder mir hilfreiche Strategien fehlen, mit diesem Stress umzugehen.
Wie können Menschen, die besonders «need for closure» (Sicherheit) benötigen, in einem solchen Kontext arbeiten und agieren?
AP: Grundsätzlich gibt es zwei mögliche Strategien. Ich kann konkrete Ideen und Ressourcen entwickeln, wie ich mit der Unsicherheit umgehen kann, oder ich kann die Welt anders sehen lernen. Das ist das Problem mit dem «need for closure»: Menschen, die ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit haben, finden es nicht mehr in inhaltlichen Antworten.
Aber es gibt auch andere Möglichkeiten. Sie sind zu beobachten
in Arbeitszusammenhängen, wo unsichere Situationen alltäglich sind – zum Beispiel bei Teams auf Intensivstationen. Diese haben ein iteratives Vorgehen entwickelt. Sie gehen schrittweise vor, setzen kurzfristige Ziele und probieren Lösungen aus, beobachten, ob sie funktionieren, und machen den nächsten Schritt. Das sind kurze Lernzirkel, in denen immer wieder reflektiert wird: Was war erfolgreich? Wie können wir handlungsfähig bleiben? Die Erfahrung solcher Teams zeigt, dass wir die Sicherheit nicht mehr in inhaltlichen Positionen finden, sondern in einem bestimmten Vorgehen, das zu einem Ziel führt. Ich finde also Sicherheit im iterativen Vorgehen und vertraue dem Prozess. In der Arbeitswelt heissen solche Team-Arbeitsformen «agil». Sie scheinen ein universales Muster des Gelingens zu sein.
Wie gelingt die Zusammenarbeit in einem agilen Team?
AP: Es braucht das Verständnis, dass erst ein gemeinsamer Lernprozess die Voraussetzung für Lösungen schafft, dass Lernen Spass macht und dass es die Bereitschaft zu lernen braucht. Auch der Umgang mit Fehlern ist zentral. Ein Fehler kann Anlass für den nächsten Lernschritt sein. Dafür braucht es eine Umgebung, die Fehler zulässt. Für Menschen, die besonders viel Sicherheit brauchen, ist zentral, dass sie sichere Prozesse finden, wenn das Inhaltliche unsicher geworden ist. Man kann ihnen sagen: «Wir wissen zwar nicht, was die Lösung ist, aber wir wissen, wie der Prozess aussieht, bis wir es herausfinden.»
Und wie können Leitungspersonen solche Mitarbeitende unterstützen?
AP: Sehr wichtig sind regelmässige gemeinsame Reflexionen, die als Lernprozess verstanden werden. Ist das, was wir machen, das Wirkungsvolle und das Richtige, und ist die Art der Zusammenarbeit hilfreich? Das andere ist die psychologische Sicherheit. Es geht darum, ein Umfeld zu schaffen, indem Mitarbeitende Schwächen zeigen, über belastende Gefühle, Ängste, Fehler und Herausforderungen sprechen dürfen und unterstützend darauf reagiert wird. Leitungspersonen müssen vorangehen und selbst auch zeigen, wo sie sich unsicher fühlen. Und das sollte nicht nur in den direkten Beziehungen spürbar werden, sondern auch im sozialen Umfeld innerhalb der Organisation. Eine gute Methode dafür ist die kollegiale Fallberatung. Andere helfen mir, eine Frage zu lösen. Ich rate auch, dass man auf das Angebot von professionellen Coaches hinweist. Denn manchmal bin ich als Leitungsperson die Ursache von Unsicherheit.
Gibt es Organisationskulturen, die da besonders gut damit umgehen?
AP: Im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Stabilität ist eine wertschätzende Kultur wichtig. Aber auch eine konstante Aus- und Weiterbildung ist eine Ressource. Sie gibt neue Horizonte, neue Kontakte und Impulse, um mit dem Spannungsfeld umzugehen. Jeder und jede verändert sich ständig. Wichtig ist, dass die Unsicherheit nicht im eigenen Kämmerlein ausgehalten wird. Es braucht einen aktiven Umgang mit der Situation und der unsicheren Veränderung. Und am besten hilft «machen». Einfach ausprobieren. Denn nur im Ausprobieren finde ich heraus, was für mich der richtige Weg ist.
Prof. Dr. Andres Pfister ist Professor für Leadership am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) der ZHAW. Zudem ist er Co-Leiter des Zentrums für Leadership, Coaching und Change Management sowie Studiengangsleiter des CAS Arbeits- & Wirtschaftspsychologie. Er forscht und publiziert u. a. in den Bereichen Führung, Agilität, Ethik und Führungsverantwortung und Entscheidungsfindung. andres.pfister@zhaw.ch
Das Streben nach Sicherheit prägt unser Leben. Wir versichern, regeln, schützen, wo immer möglich. Religion kommt meist erst dann ins Spiel, wenn mit Unsicherheiten zu rechnen ist. Jörg Frey über das radikale Vertrauen, Sicherheit preiszugeben und etwas zu wagen.
Von Jörg Frey
Brauchen wir eine Götzendämmerung? Sicherheit, Verlässlichkeit, Planbarkeit – das charakterisiert den Ruf der Schweiz und ist ein zentraler Aspekt von «Swissness»: eine perfekt funktionierende Verwaltung, pünktliche Züge, genug finanzielle Rücklagen, politische Stabilität wie sonst kaum irgendwo. Zu fast jedem Raum oder Gebäude gibt es Sicherheitskonzepte, zu jedem Vorgang Kostenpläne und Ausführungsverordnungen – damit nicht nachher jemand kommen und sich beschweren kann. Risikomanagement auf allen Ebenen. Das mag nützen, oft aber bremst es. Spontanes Handeln – ist nicht möglich. Wenn niemand ein Risiko eingehen will, wird die Reaktion des Herzens erstickt. Auch in der Kirche.
Das Streben nach Sicherheit prägt unsere Gesellschaft und unser Leben: Nirgendwo wird so viel versichert wie bei uns, inklusive Leben und Sterben. Die Sorge, Wohlstand einzubüssen, ist da am grössten, wo der grösste Wohlstand ist. Da werden Häuser aufgerüstet zum Bollwerk gegen böse Einbrecherbanden, Grenzen zum Bollwerk gegen unerwünschte Migration. Alle Grenzen überschreiten konnte ironischerweise nur ein Virus. Und vielleicht hat uns die Coronazeit deshalb so gebeutelt, weil da etwas war, das wir nicht im Griff hatten, und weil uns die Erfahrung und Fähigkeit, mit Unsicherheit und Kontingenz umzugehen, fehlte. Meine über 90-jährige Mutter, die noch NS-Zeit und Krieg erlebt hatte, war in dieser Zeit um ein Vielfaches gelassener als ich, und ein eritreischer Freund, der die halbe Familie im Krieg verloren hat, wurde mir zum Beispiel der Resilienz des Glaubens. Wenn Religion etwas mit Kontingenzbewältigung zu tun hat, sollte uns das zu denken geben. Wo gibt es in unserem Leben noch Kontingenz, die nicht institutionell oder individuell ‚abgefangen‘ ist? Religion kommt oft erst dann ins Spiel, wo mit Unsicherheiten zu rechnen ist. Nicht unbedingt die christliche, oft Spielarten der Gesundheitsreligion, Schicksalsglaube oder esoterische Weisheiten.
Wie Glaube wächst
Der Kontrast zwischen Jesu Auftreten und unserem Sicherheitskult könnte nicht grösser sein. «Seht die Vögel unter dem Himmel! (…) Seht die Lilien auf dem Feld!» Jesus und seine Nachfolger hatten alles verlassen, familiäre Verpflichtungen, selbst Pietätspflichten hintangestellt: «Folge mir! Und lass die Toten ihre Toten begraben.» (Mt 8,22). Sie zogen von Ort zu Ort, lebten von der Hand in den Mund und von Gaben lokaler Unterstützerinnen. Die Bitte um das ‚tägliche‘ Brot, das Brot für morgen, war existentiell. Sie hatten «alles verlassen» – und doch «nie Mangel» (Lk 22,35). Radikales Vertrauen – in der Preisgabe aller Sicherheiten. Radikales Vertrauen – für eine grössere Mission, das «Reich Gottes». Da stellten sich Erfahrungen ein. «Nie Mangel» wird erst erfahren, wenn Mangel eine ernsthafte Option ist. Glaube wächst an Erfahrungen und Herausforderungen. Bis heute.
Jesu Radikalismus ist und bleibt eine Infragestellung für unser im Wohlstand ertränktes Christentum. Würde Jesus uns heute begegnen, würden auch wir ihn wohl als verrückten Spinner oder Tagträumer ansehen. Und eher auf unsere Versicherungen vertrauen. Wer liesse sich herauslocken? Wohl wenige.
Gewiss. Die Kirche musste zur Institution werden. Spätestens ab der dritten Generation mussten Dinge geregelt sein. Da gab es nicht nur «Wanderradikalismus», sondern, wie Gerd Theißen formulierte, auch «Liebes-
patriarchalismus»: Menschen, die mit ihrem Besitz grosszügig andere unterstützten. Auch das ist gut und vorbildlich. Bis heute. Und natürlich hat das Christentum, auch die Reformation, Schritte auf unser Wohlfahrtswesen hin gefördert. Gut so. Vielen geht es deshalb besser.
Entgegen allen Konventionen
Und doch darf der Stachel des Radikalismus, die Herausforderung durch Jesu Nachfolgeruf nicht stumpf werden. Erneuerung kam in der Kirche immer wieder über radikale, nonkonformistische, in ihrem Lebensstil provokative Bewegungen. Asketen in der Wüste, die Armutsbewegung des Franziskus, visionäre Mystikerinnen, Menschen, die bereit waren, nur mit einem Koffer in die Mission nach China zu gehen. Oder die anfingen, Kranke zu pflegen und dafür alles einsetzten. Menschen waren bereit, Sicherheiten preiszugeben, etwas zu wagen, sich nicht einfach der Konvention gemäss zu verhalten. Nur so wird die Herausforderung, die Jesu Wirken und Botschaft enthält, vermittelt. Sie provoziert Widerspruch und Befremden – aber die spätbürgerliche Anpassung an die Gesellschaft, die jeden Anstoss vermeiden will, macht die Kirche irrelevant.
Die Nachfolge Jesu will immer wieder neu umgesetzt werden. Wir können nicht Franziskus, Tolstoi oder Bonhoeffer kopieren. Aber was auch immer wir tun: Es gilt, Sicherheit preiszugeben, etwas zu wagen. Im Vertrauen auf Gott und in der Orientierung an Jesus. «Tut um Gottes Willen etwas Tapferes.» Dieses Zwingli-Wort steht im Zürcher Grossmünster in der Sakristei.
Ist das Sicherheitsstreben unser Mammonsdienst, unser Götze? Auch in der Kirche? Dann «tut um Gottes Willen etwas Tapferes», denn die Verheissung gilt denen, die vertrauen.
Prof. Dr. Jörg Frey ist seit 2010 Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaft mit den Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich sowie Research Associate der University of the Free State in Bloemfontein (Südafrika). Seine Forschung konzentriert sich u. a. auf die Johanne-
ische Literatur, das Judenchristentum sowie Themen der Exegese und
Theologie des Neuen Testaments. joerg.frey@theol.uzh.ch
Was zeichnet ein Team aus, in dem die Menschen gut und gerne zusammenarbeiten? Die kurze Antwort: Das Gruppenklima ist «sicher». Ein Gespräch zwischen zwei Fachleuten, die sich dem Dienst verschrieben haben, die (Arbeits-)Welt sicherer zu machen.
Von Joachim Maier und Franziska Grüninger
Gut funktionierende Teams lassen sich daran erkennen, dass sich die einzelnen Teammitglieder sicher fühlen. Alle kommen ungefähr gleich häufig und gleich lang zu Wort. Alle können sich auf Augenhöhe begegnen, weil die Sicherheitsanker und Triggerthemen des Gegenübers bekannt sind und berücksichtigt werden. So kann jede:r darauf vertrauen, sich ohne Angst vor Ausschluss und Ablehnung einbringen zu können.
Joachim Maier (JM): Franziska, wir sind uns im Weiterbildungskurs an der ZHAW zum Thema «Psychologische Sicherheit für Führungskräfte» begegnet, den ich leiten durfte. Was beseelt dich an unserem Herzthema?
Franziska Grüninger (FG): Als langjähriger Führungsmensch habe ich ein buntes Spektrum von herausragend innovativen bis hin zu konfliktbeladenen Meetings erlebt. Bei meiner Arbeit wird mir immer wieder aufs Neue ein wertvolles Geschenk gewährt: Vertrauen. Als Personalvertreterin habe ich eine Vertrauensposition gegenüber vielen Mitarbeitenden inne. Diese besondere Rolle, die mir diese Menschen schenken, ist mir heilig.
JM: Wo liegen die grössten Herausforderungen für deine Rolle als Vertrauensperson bei deiner täglichen Arbeit?
FG: Mich beschäftigt die Frage, wie die im Vertrauen ausgesprochenen Informationen, welche mir zugetragen werden, auf eine gute und vor allem sichere Art und Weise dorthin kommen, wo sie einen Unterschied machen und Entscheidungen im Positiven beeinflussen können.
JM: Wenn dir Informationen anvertraut und Situationen nicht direkt im Team geklärt werden (können), scheint mir das auch ein Symptom für eine möglicherweise verbesserungswürdige psychologische Sicherheit. Angstfreie Kommunikation ist in diesen Fällen offenbar (noch) nicht möglich. Andererseits könnten Rollen wie die Personalvertretung dazu beitragen, Mitarbeitenden anonyme und sichere Kanäle anzubieten, um die Zusammenarbeit weiter zu verbessern.
FG: Genau. Jede und jeder von uns ist Teil des Systems, in dem es sich für die Einzelnen lohnen sollte, Mini-Risiken einzugehen und einen eigenen Beitrag für das grosse Ganze zu leisten.
JM: Für mich steht diese Frage nach der Möglichkeit eines grossen Ganzen, oder poetischer mit Martin Buber, wie wir vom «Ich» und «Du» zum «Wir» kommen können, ganz oben. Teilst du die Erkenntnisse aus der viel zitierten Google-Aristoteles-Studie, wonach das WIE der Zusammenarbeit erfolgsrelevanter ist, als WER genau im Team zusammen unterwegs ist? Google hat 180 Teams untersucht und kam zum Schluss, dass die psychologische Sicherheit aus den 60 getesteten Team-Variablen der beste Prädiktor für Team-Performance ist.
FG: Ja, auch für unseren Kosmos könnte die psychologische Sicherheit matchentscheidend sein, obwohl man festhalten darf, dass wir bei ABB Schweiz bereits viel für Mental Health und Wellbeing tun. Dennoch: Stell dir vor, das Verhältnis zu deiner oder deinem Vorgesetzten ist bereits konfliktbehaftet, gleichzeitig arbeitet ihr an einer Innovation, welche einen entscheidenden Einfluss auf die künftige Arbeitsweise einiger Mitarbeitenden hat. Nun erkennst du im Projekt schwerwiegende Hürden, welche deine:n Vorgesetzte:n nicht erfreuen werden. Mit welcher inneren Haltung gehst du in das Gespräch? Offenbarst du die Hürden gleich entspannt und lösungsorientiert, wie wenn du keine Konflikte hättest?
JM: Und ebenso entscheidend: Wie gelingt es dem Chef, der Chefin, mit dem Team auf Augenhöhe zu kommen und zu bleiben? Vielleicht sogar im Wissen, dass Führungskräfte die psychologische Sicherheit im Team zu positiv einschätzen sowie einen eigenen positiven Beitrag zum Teamklima überschätzen? Ein erster Schritt könnte beispielsweise darin bestehen, die psychologische Sicherheit mit dem von uns entwickelten und gratis zu nutzenden «Luzerner psychologischen Sicherheitstest» zu messen. In einem zweiten Schritt wäre Selbst- und Fremdbild-Arbeit angesagt.
FG: Und drittens wäre es wichtig, individuelle defensive Reaktionen, wie Flucht, Kampf oder Erstarren als Symptome von gerade nicht ausreichend vorhandener psychologischer Sicherheit zu erkennen. Viele kennen das Gefühl, getriggert zu werden. Häufig fehlt es aber an Strategien, ein sicheres Gegenüber zu werden und gleichzeitig souverän mit dem eigenen Trigger umzugehen.
JM: Eine unbequeme Hypothese: Wenn ich getriggert werde, hat das meist mit meiner eigenen Geschichte und nur wenig mit dem Gegenüber zu tun. Und ja, Sicherheit zeigt sich, genauso wie ihr Gegenteil, der Trigger, zuerst im Körper. Nur wenn ich ganz bei mir (also ungetriggert) bin, kann ich ganz beim anderen sein. Dann wird der Weg zum WIR frei. Diesen wertvollen Raum sichert unser autonomes Nervensystem, indem es permanent und meist unter der Schwelle unserer Wahrnehmung unsere Umwelt nach Hinweisen durchsiebt, die unser Sicherheitsempfinden bedrohen könnten: Mit welcher Intonation spricht mein Gegenüber? Ist die obere Gesichtshälfte animiert oder die untere erstarrt? Kenne ich meine Triggerthemen und Sicherheitsanker? Und interessiere ich mich für die meines Gegenübers? All dies wäre Voraussetzung, um soziale Sensibilität zu leben – neben den gleichberechtigten Redeanteilen – der zweite Indikator für psychologische Sicherheit in Googles Aristoteles-Studie. Beides DIE Erfolgsfaktoren für sichere, gut und erfolgreich funktionierende Teams.
Luzerner psychologischer Sicherheits-Check-up:
Franziska Grüninger ist Personalvertreterin und Teamleiterin bei ABB Schweiz. Sie ist mit Herzen Führungsmensch und bezeichnet sich als psychologische Sicherheitsagentin. Sie absolvierte den Studiengang «FHNW-Diplom in Angewandter Psychologie für die Arbeitswelt». franziska.grueninger@ch.abb.com
Dr. Joachim Maier ist Dozent und Berater am Institut für Angewandte Psychologie (IAP) der ZHAW. Seine Spezialgebiete sind Co-Creation, Systemische Gruppendynamik und psychologische Sicherheit. Er leitet den Kurs «Psychologische Sicherheit als Führungsaufgabe».
maij@zhaw.ch

«sicher»
Wie absurd es wirkt, in diesen Zeiten von Sicherheit zu schreiben. Oder zumindest anmassend.
Auf europäischem Boden herrscht seit über einem Jahr Krieg, eine Materialschlacht wie jener Weltkrieg, der noch keine Nummer hatte. Einfach weil sich niemand vorstellen konnte, dass die Menschheit noch einmal irre genug sein könnte, dieses barbarische Schauspiel zu wiederholen.
Auf der Baustelle gegenüber ziehen sich die Bauarbeiter den Helm aus, während sie sich eine Zigarette anzünden und auf ihren Smartphones herumdrücken. Auf meinem Bildschirm referiert ein selbsterklärter Wirtschaftskapitän darüber, dass die Altersvorsorge zu teuer sei. Der Gedanke daran, was das alles mit seinen Boni zu tun habe und/oder mit der Tatsache, dass sich in Zürich niemand mehr eine Wohnung leisten kann, wird von einem Werbespot für Zahnpasta unterbrochen.
An der Bahnhofstrasse ziehen gleichzeitig drei Demonstrationszüge mit jungen, meist absichtlich lumpig gekleideten Menschen am alten Credit Suisse-Gebäude vorbei. Alle schreien. Die einen von Frieden, die anderen von Geld. Die Dritten darüber, dass der Bus wieder nicht pünktlich fährt. Leider klebt sich niemand auf der Strasse fest. Als ich noch Parlamentarier war, erzählte man mir immer wieder, dass Sicherheit und Sauberkeit untrennbar zusammengehören. Deswegen sind Panzer immer so poliert. Und Graffiti sind ein Verbrechen. Wenn ich die Zahlen aus dem sechsten Statusbericht der IPCC richtig interpretiere, würde es uns acht CS-Rettungen kosten, den Klimawandel zu stoppen.
Die Gewissheit, dass Kiribati schon längst im Ozean verschwunden sein wird, bevor wir lernen, Widersprüche nicht einfach immer nur auszuhalten, ist ja auch eine Form von Sicherheit.
Etrit Hasler, Autor und Slam Poet, gehört zu den Pionieren der Schweizer und der deutschsprachigen Slam-Poetry-Szene. Der boshaft-charmante Schnellsprecher schafft auf der Bühne bis 270 Wörter pro Minute. Daneben ist der St. Galler Moderator, Autor und Journalist seit 2020 Geschäftsführer des Dachverbands Suisseculture Sociale.

Das Ziel im Blick
Ein Umzug nach Zürich machte für mich die Kirche zu einem zweiten Zuhause. Ich war vierzehn und hatte bisher nur eine Leidenschaft: das Klettern, das mich in meiner Spitzenzeit als Athletin bis ins Finale der Weltmeisterschaften brachte. Nun entdeckte ich eine zweite Leidenschaft, von der ich nach wenigen Monaten wusste, dass ich sie zum Beruf machen wollte: den Glauben und die Gemeinschaft, in der er gelebt wird.
Kirche fand hier im Quartier nicht nur sonntags statt, sondern wurde auch im Alltag gelebt. Rasch fand ich Anschluss und konnte meine Ideen und Begabungen einbringen. Der Gedanke, dass wir alle ein Abbild von Gott sind, kam im Umgang miteinander zum Ausdruck. Das begeisterte mich. Ich fand im Glauben die Freiheit, den Sport aus Freude und Leidenschaft zu betreiben, ohne meinen Wert daraus zu schöpfen oder mich über meine Leistungen zu definieren. Das hat mir bei Wettkämpfen geholfen, unverkrampft und doch zielstrebig zu sein.
Inzwischen habe ich den Profisport aufgegeben und schätze das Privileg, mich im Studium jeden Tag mit dem befassen zu dürfen, was mir wichtig ist. Ich möchte Gefängnisseelsorgerin werden oder mit neuen Formen von Kirche experimentieren. Meine Erfahrungen im Sport prägen meine Wünsche für die Kirche. Sie soll mutig sein, Visionen haben und daran festhalten. Du kannst nicht immer gewinnen. Aber du kannst alles dafür tun, um dein Ziel zu erreichen.
Foto: Peter Hauser